Der Dreischritt im Unterricht und SVL III

Der Dreischritt im Unterricht und das individualisierte, kooperative und selbstverantwortliche Lernen

Teil 3 Sicherheiten

Seit über 30 Jahren beschäftige ich mich mit der Frage, wie die Schüler die Verantwortung für ihr Arbeiten und ihr Lernen möglichst weitgehend selbst übernehmen können. Seit dem Jahr 1990 und im verstärkten Maße seit 2004 begleite ich verschiedene Praxisforschungsprojekte zum selbstverantwortlichen Lernen (svl) an verschiedenen Freien Waldorfschulen.

Bei diesen Projekten hat sich gezeigt, dass die meisten Lehrer sich nicht bewusst sind, dass das selbstverantwortliche Lernen unbedingt bestimmte Voraussetzungen und Bedingungen braucht, um von den Schülern in der richtigen Weise ergriffen werden zu können. Ohne diese Voraussetzungen und Bedingungen mit den Schülern angelegt und erfüllt zu haben, sind Versuche des selbstverantwortlichen Lernens in der Regel zum Scheitern verurteilt. Das war leider häufig der Fall. Dies hat in manchen Schulen die Versuche mit neuen Lernformen und den Begriff SVL in Misskredit gebracht. Deshalb legen wir großen Wert darauf, dass bei unseren Praxisforschungsprojekten diese Voraussetzungen und Bedingungen vorher erfüllt werden, bevor mit dem eigentlichen selbstverantwortlichen Lernen begonnen wird.

Weiterhin sind bestimmte Stufen im Aufbau von der Selbstständigkeit hin zur Selbstverantwortung und vom Arbeiten hin zum Lernen zu beachten. Darauf werde ich später Bezug nehmen.

Nun geht es erst einmal um die für das selbstverantwortliche Lernen notwendigen Voraussetzungen und Bedingungen. Eine sehr wichtige Voraussetzung ist die Sicherheit! Dabei unterscheiden wir 4 Ebenen von Sicherheiten.

Sicherheit:

Lernen kann – ebenso wie auch Verantwortung ergreifen – überhaupt nur auf der Grundlage einer gewissen Sicherheit erfolgen. Sobald Unsicherheit und Angst mit im Spiel sind, sind Lernen und Verantwortung-Übernehmen stark behindert. Die neuere Gehirnforschung (Manfred Spitzer, Gerald Hüther) hat nachgewiesen, dass bei Angst keine Kreativität mehr möglich ist, sondern nur noch gut eingespielte Routinen abgerufen werden können. Schon ein einmaliges Angsterlebnis (und erst recht wiederholte!) kann dazu führen, dass bei Eintreten einer solchen Situation die Amygdala, d.i. der sog. Mandelkern, im Gehirn aktiviert wird, der sofort bestimmte Überlebensmechanismen aktiviert und die normalen Funktionen außer Kraft setzt.

Meiner Beobachtung nach befinden sich viele Schüler, denen Willensschwäche vorgeworfen wird, weil sie Passivität und Desinteresse zeigen, in einer solchen Situation der Angst und des Stress, die sie nicht mehr normal reagieren lässt. Bei Druck, der dann in der Regel von Lehrern und Eltern aufgebaut wird, wird es nur noch schlimmer, statt besser. Es beginnt häufig ein Teufelskreis, der je nach Charakter des Schülers entweder zu immer mehr Rückzug und Passivität bis hin zur Schulverweigerung oder aber zu Störungen, Angriff, Kampf auf verschiedenen Ebenen, Aggressivität und Gewalttätigkeit führt. Besonders schwierig wird es, wenn die Negativ-Zuwendung der Umgebung dem Schüler eine gewisse Sicherheit gibt, die er anders nicht bekommen kann. Dieser Teufelskreis muss erst erkannt werden, um ihn überhaupt durchbrechen zu können.

Das bedeutet, dass immer darauf geachtet werden muss, welche Voraussetzungen die Schüler für die jeweilige Arbeit, den Inhalt und das Lernen mitbringen, wie viel Sicherheit sie als Gruppe, vor allem aber individuell schon entwickeln konnten. Häufig verschwinden die Unsicherheiten in der Gruppe, weil sie Schutz bietet und man sich in ihr verstecken bzw. einfach unauffällig mitschwimmen kann. Insofern muss jeweils herausgefunden werden, was individuell und in der Gruppe noch angelegt, geübt und entwickelt werden muss, damit eine ausreichende Sicherheit für das individuelle und gemeinsame Arbeiten und Lernen entsteht.

Meiner Erfahrung nach brauchen die Schüler Sicherheit in vier Bereichen

  • emotionale Sicherheit, d.h. die einzelnen Schüler müssen sich vom Lehrer angenommen fühlen und der Lehrer muss Vertrauen in ihre Entwicklungsmöglichkeiten haben. (Das Gleiche gilt natürlich für das Elternhaus!) Das bedeutet auch, dass die schulische Situation keine Trigger auslösen darf. Dies geschieht durch Lehrer und Mitschüler – ohne es zu wissen – sehr häufig. Man ist dann nur verwundert über etwaige ungewöhnliche Reaktionen (siehe oben).
  • soziale Sicherheit, d.h. sie müssen in der Klasse akzeptiert sein und Fehler machen dürfen, ohne dass das zum Nachteil gereicht oder sie Spott oder Hänseleien ausgesetzt sind. Für manche Schüler ist das überhaupt kein Problem, für andere dagegen ein sehr großes. Der Lehrer muss dies sorgfältig beobachten und die Gruppendynamik der Klasse gut kennen. Vieles spielt sich sehr im Verborgenen ab! Er muss die Gruppendynamik aufgreifen und ggfs. durch gezielte Übungen und z.B. Rollenspiele verwandeln helfen, damit  ein positives Lernklima und eine positive Fehlerkultur entstehen können. (Auch dies sollte im sozialen System Elternhaus gewährleistet sein.)
  • methodische Sicherheit, d.h. die Schüler müssen das methodische Handwerkszeug solange üben, bis sie es beherrschen, das für das individuelle und gemeinsame Arbeiten und Lernen sowie für das jeweilige Fach und die jeweilige Aufgabe notwendig ist. Sie müssen darüber hinaus auch die Methoden des eigenständigen Arbeitens und Lernens beherrschen, um sich selbst und gemeinsam etwas erschließen und erarbeiten zu können. Sie sollten gewöhnt sein, allein etwas zu bearbeiten und auch im Duo, Trio oder in einer Vierergruppe konstruktiv und arbeitsteilig zusammenzuarbeiten. Zum Lernen gehört dazu, dass sie ihren Lernweg und ihre Lernstrategie sowie ihre Ergebnisse erkennen, beschreiben und reflektieren können.
  • inhaltliche Sicherheit, d.h. die Schüler müssen vom Lehrer soweit in die Inhalte eingeführt, dafür angewärmt sein und dadurch einen eigenen inneren, vor allem emotionalen Zugang zu den Inhalten gefunden haben, dass sie selbst Fragen daran entwickeln können, damit sie sich dann selbstständig und selbstverantwortlich weiter forschend und entdeckend darin bewegen können. Weiterhin muss der Lehrer ihnen den Zugang zu verschiedenen altersgerechten Materialien ermöglichen, die ihnen eine individuelle Erarbeitung von zusätzlichen, ergänzenden Inhalten in ihrem eigenen Interessenfeld möglich machen.

Mit dem schrittweisen Aufbau dieser Sicherheiten ab der 1. Klasse werden sie Schüler immer mehr fähig, ihr Lernen für sich und mit anderen selbst zu gestalten. Wichtig ist dabei vor allem, dass der Lehrer ihnen neben den Sicherheiten auch die unbedingt notwendigen Freiräume gibt, in denen sie das – auch auf „Umwegen“- jeder in seinem Tempo und mit seiner eigenen Strategie entwickeln dürfen. Das bedeutet aber auch insbesondere einen Verzicht auf die umfassende Kontrolle aller Schüleraktivitäten. So muss der Lehrer, der gewöhnt ist, für alles verantwortlich zu sein und deshalb auch alles kontrollieren muss, seine Rolle neu definieren und aktiv und bewusst verwandeln.

Veränderung der Lehrerrolle:

Die Aufgabe des Lehrers ist nach wie vor – ja sogar noch mehr als bei der „klassischen“ Lehrerrolle – für die oben genannten vier Sicherheiten zu sorgen und auf dieser Grundlage altersgerecht – auf die jeweilige Klassen-Situation abgestimmt – geeignete Lernräume für die Schüler zu eröffnen und zu gestalten. Gerade hier bietet die Waldorfschule besondere Möglichkeiten, da sie dem einzelnen Lehrer sehr viele Freiheiten in der Gestaltung seines Unterrichtes gibt. Der Lehrer muss gerade beim selbstverantwortlichen Lernen (nach wie vor!) seine zentrale Rolle als Bezugsperson, als ordnendes, gestaltendes und Raum gebendes Bewusstsein, als „Tor zur Welt“ sowohl für die Inhalte als auch für die Methoden besonders bewusst ergreifen und gestalten, ohne die Schüler damit zu unterfordern oder zu überfordern. Er muss jedoch dabei immer im Bewusstsein haben, dass er die individuellen Lernprozesse der Schüler nur anregen und begleiten, aber nicht bestimmen kann. So ändert sich seine Rolle vom Be-Lehrenden zum Lernbegleiter und Gestalter von Lernbedingungen und Lernmöglichkeiten.

Es ändert sich aber seine Verantwortung! In der „klassischen“ Lehrerrolle ist der Lehrer für alles, das heißt sowohl für die Rahmenbedingungen als auch für die Inhalte, die Methoden und den Prozess des Lernens verantwortlich sowie für die Ergebnisse. Er wird von Eltern und Schülern in zunehmendem Maße auch aktiv in diese Verantwortung hineingezwungen. Wehe, er nimmt diese Rolle an! Es ist aussichtslos, diese Erwartungen erfüllen zu können. Letztlich führt das auch in den Waldorfschulen immer mehr dazu, dass

  • sich die Schüler von den Lehrern bedienen lassen,
  • immer die Lehrer schuld sind, wenn die Schüler zu wenig lernen,
  • die Lehrer die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Schüler durch die Prüfungen kommen etc.

Im selbstverantwortlichen Lernen wird der Lehrer immer mehr zum Lern-Begleiter der Lernprozesse der Schüler. Er ist verantwortlich für die vier oben genannten Sicherheiten und lässt – jeweils altersgemäß – einen Teil der Verantwortung für das Arbeiten und das Lernen beim Schüler bzw. überträgt dem Schüler wieder mehr Verantwortung dafür, soweit das schon verloren gegangen sein sollte. Das sollte behutsam und schrittweise geschehen, damit nicht durch den Wechsel der eingeübten Rollen wieder Unsicherheit entsteht. So habe ich gerade bei Oberstufenschülern erlebt, dass sie sich gegen die Übernahme von mehr Verantwortung wehren, da sie Angst haben es nicht zu können, Nachteile befürchten und auch weil es so wie bisher viel bequemer ist, weil die Schuld ja immer auf den Lehrer geschoben werden kann. Auch die Eltern suchen heutzutage in der Regel die Schuld lieber beim Lehrer als beim eigenen Kind. Alle übersehen dabei aber, dass die „Schuld“ für die auftretenden Probleme eigentlich bei den Lernbedingungen und der Rollenverteilung liegt.


Der Dreischritt im Unterricht und SVL III


Vierter Teil zu Aufbau – arbeiten und lernen

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