Individuelles Lernen ermöglichen!

Individuelles Lernen ermöglichen!

Mein Hauptaugenmerk soll hier der Rolle und dem Einfluss der Erwachsenen auf die Lernprozesse der Kinder gelten. Meine Vermutung ist, dass die Erwachsenen in der Begleitung der Lernprozesse der Kinder durch viele kleine Impulse, Reaktionen, Bewertungen, Anregungen etc., die zumeist gut gemeint sind, manchmal aber vielleicht auch abwehrenden oder zurückweisenden Charakter haben, schleichend, unbemerkt diesen ursprünglichen Lernwillen des einzelnen Kindes abbauen und das Lernen der Kinder immer stärker in die Abhängigkeit von den Erwachsenen bringen. Ganz deutlich wird es dort, wo Erziehen zum Beruf wird, nämlich im Kindergarten und vor allem in der Schule.

Kann das Kind in der Familie noch weitgehend individuell lernen, das heißt also seinem individuellen Lerntempo folgen, seine eignen Strategien zur Bewältigung von Schwächen und zum Einsetzen von Stärken relativ ungestört leben, so ändert sich dies schlagartig, wenn es sich in gemeinschaftliche Lernprozesse einfügen muss. Dies beginnt im Kindergarten, bricht aber mit aller Gewalt in der Schule über das Kind herein. Nicht mehr der individuelle Lernprozess ist gefragt, sondern die ganze Klasse soll etwas lernen. Und je nach Individualität des Kindes, je nach seinen Vorerfahrungen setzen jetzt hier verschiedene Abwehrstrategien des Kindes zur Bewältigung dieser (Stress-) Situation ein. Damit sind die verschiedenen »Störungen« der kindlichen Lernprozesse in der Schule unausweichlich, werden aber von den Kindern in ganz unterschiedlicher Weise verarbeitet und bewältigt. Nicht nur jedes Kind hat seine individuelle Lernstrategie und sein individuelles Lernverhalten, sondern natürlich jeder Erwachsene auch. Das Erstaunliche dabei ist, dass die wenigsten Erwachsenen – vor allem auch die wenigsten Lehrerinnen und Lehrer – ihre individuelle Lernstrategie, ihre Lernbarrieren und ihr individuelles Lernverhalten kennen. So fehlt ihnen die wichtigste Voraussetzung für das Verständnis individueller Lernstrategien anderer.

Deshalb käme es aus meiner Sicht einer Revolution der Schule und einer Revolution des Lernens gleich, wenn man in der Praxis davon ausginge, dass jeder Mensch grundsätzlich individuell lernt. Aus der Lernforschung kennen wir bestimmte Lerntypen und Lernmethoden, die das von mir eben genannte Phänomen zwar grundsätzlich berücksichtigen, dann aber innerhalb der betreffenden Gruppe wieder zu generalisierten Lernformen kommen. Ich glaube jedoch, dass unsere immer stärker individualisierten Kinder auch stark individualisierte Lernformen brauchen.

Ohne darüber urteilen zu wollen, ob es stärker aus der Persönlichkeit der heutigen Kinder kommt oder stärker von der Umwelt und den Erziehungsbedingungen hervorgerufen ist, kann man bei sehr vielen Kindern einen stark ausgeprägten Eigen-Willen erleben, der den Erwachsenen in der Regel zu schaffen macht, wenn sie sich in Gegensatz zu diesem Eigenwillen begeben und damit kämpfen – aber auch wenn sie ihm nachgeben. Besonders schwierig wird es für Eltern und Lehrer dort, wo dieser starke Eigenwille auf alles andere gerichtet ist als das Lernen, ja geradezu he-rausgefordert scheint, alles zu tun, um die geforderten Lernsituationen zu vermeiden oder zu umgehen. Dies ruft wiederum bei den Erwachsenen eine Vielzahl von Strategien zur Lernmotivation bis hin zum Lernzwang hervor. Die Frage ist nur, was dabei von den Kindern und Jugendlichen wirklich gelernt wird. Meine These ist, dass dabei vor allem eine Vielzahl von individuellen Durchsetzungs-, Vermeidungs- und Kompensationsstrategien gelernt werden. Diese führen jedoch nicht selten in eine der (im Moment möglichen) diversen Süchte oder aber auch in körperliche Reaktionen wie Magersucht oder Bulimie.

Anerkennung des individuellen Lernwillens

Wie kann das Lernen aus der Kampfsituation zwischen Eltern/Lehrern und Kindern/Jugendlichen herausgenommen werden?

Ein möglicher Ansatzpunkt liegt darin, an dem individuellen Lernwillen jedes einzelnen Kindes und Jugendlichen anzusetzen, ihn anzuerkennen und ihm seine individuellen Lernerfahrungen, Lernwege und Lernstrategien zu ermöglichen. Wichtig scheint dabei zu sein, dass sich der Erwachsene in den verschiedenen Altersstufen als Entwicklungsbegleiter für einen individuellen Lernprozess versteht und nicht als Besserwisser, Befehlshaber oder Manager dieses kindlichen und jugendlichen Lernprozesses. Entscheidend dabei ist, dass – natürlich jeweils in der altersgemäßen Ausprägung – das Kind die Verantwortung für seinen eigenen Lernprozess behält oder wieder übertragen bekommt und nicht der Erwachsene die Verantwortung für den Lernprozess des Kindes übernimmt! Meiner Erfahrung nach geraten die Erwachsenen – aus meiner Sicht völlig zu Recht, wenn sie glauben, die Verantwortung für die Lernprozesse eines anderen Individuums übernehmen zu können – häufig in einen größeren Leistungsstress und Erfolgszwang als das Kind oder der Jugendliche selbst. Das zieht seitens der Erwachsenen eine Vielzahl von möglichen Fehlverhalten nach sich, die sich wiederum negativ auf den Lernwillen und die Selbstverantwortung des Kindes oder des Jugendlichen auswirken.

So können wir vielfach erleben, dass die Lehrer immer mehr Überlegungen anstellen, wie sie noch bessere Entertainer vor der Klasse werden können, um die gelangweilten Kinder oder Jugendlichen für einen Stoff zu begeistern, der nur ihnen wichtig erscheint, aber nicht den Kindern.

In den vergangenen Jahrzehnten sind viele Strategien gerade in Reformschulen entwickelt worden, mit denen die Kinder mehr Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernehmen sollen. Ich nenne hier als Beispiele nur die Wochenpläne, das Konzept der Frei-arbeit/Projektarbeit und Ähnliches. All diese Konzepte haben aber nichts Grundsätzliches an der eingangs beschriebenen Problematik an unseren Schulen geändert, die ja nur vordergründig eine Problematik der Schulen ist, denn sie ist eigentlich eine tiefe Problematik unserer Kinder und Jugendlichen, deren Lernwillen sich nicht adäquat entfalten kann und deshalb verschiedene Irrwege geht und sich andere Betätigungsfelder sucht. Diese Weichenstellungen im Kindes- und Jugendalter wirken sich häufig durch das ganze Erwachsenenleben aus, so dass die Probleme dort ihre Fortsetzung finden, nur auf anderen Feldern und mit anderen Mechanismen.

Was ist nun nötig, um eine radikale Neuorientierung des Lernens von Kindern und Jugendlichen und eine ebenso radikale Veränderung der Rolle des Erwachsenen darin zu ermöglichen? Primär sehe ich die Notwendigkeit, dass die Erwachsenen aufwachen für den besonderen Schatz, den sie in ihrem eigenen individuellen Lernen haben, und dass sie dieses Feld ihres eigenen individuellen Lernens bewusst ergreifen und erforschen. Die Kenntnis der eigenen Lernprozesse und die Achtung davor ist eine erste Voraussetzung dafür, die Lernprozesse anderer Menschen achten zu können und die Verschiedenheit vom eigenen Lernen zu entdecken. Insofern besteht ein wichtiger Schritt darin, die Verschiedenheit der individuellen Lernprozesse überhaupt sich aussprechen zu lassen, um damit bewusst umgehen zu können.

Erziehungskunst – Heft 6 – Jahrgang 2002 – Juni 2002

Individuelles Lernen ermöglichen!

Bild von Mojca-Peter auf Pixabay

Hinterlassen Sie einen Kommentar





Mit der Nutzung dieses Formulars erklären Sie sich mit der Speicherung und Verarbeitung Ihrer Daten durch diese Website einverstanden.