Konflikte in Lehrerkollegien
Was ist an Waldorfschulen anders?
Es gibt keine Gemeinschaft von Menschen ohne Konflikte. Wir kennen alle das Bild der Kinder im Sandkasten, die sich streiten und gegenseitig mit Sand bewerfen. Wir können dieses Bild in verschiedenen Lebensaltern wiederfinden wobei sich die Gegenstände des Konfliktes und die Mittel der Auseinandersetzung in den verschiedenen Altersstufen und Lebenssituationen verändern. Es ist dann nicht mehr Sand, der als Kampfmittel benutzt wird, sondern es sind z.B. Worte, Stimmungen, Gefühle, Gesten, Ansprüche, Urteile, die zu Waffen werden.
Das soziale Feld „Schule“ ist aufgrund der unterschiedlichen Alterssituation seiner „Nutzer“, der Kinder, sowie der „Auftraggeber“, der Eltern und der „Ausführenden“, der Lehrer naturgemäß ein Feld, auf dem sich auch viele Konflikte abspielen. Sie sind durch die verschiedenen Entwicklungssituationen der Kinder und Jugendlichen bedingt, ebenso wie durch die jeweilige biographische Situation der Beteiligten (junger/alter Lehrer, junge/alte Eltern, Familienkrisen usw.), aber auch durch die Erwartungen und Ideale, die mit dieser Situation verbunden werden (Zukunftswünsche der Eltern für ihr Kind, eigene Schulerfahrungen, Selbstverwirklichungswünsche …). Jeder Mensch braucht, aber vor allem Kinder und Jugendliche brauchen für bestimmte Entwicklungs- und Ablösungsschritte Konflikte, um sich in der richtigen Weise entwickeln zu können.
So formt sich zum Beispiel der Wille des kleinen Kindes in der Auseinandersetzung mit dem Willens des Erwachsenen (=Konflikt), wodurch das kleine Kind lernen kann, dass es nicht alles, was es sieht und gerne haben möchte, auch bekommen kann. Ein anderes Beispiel ist die Situation des pubertierenden Jugendlichen, der sich aus der Kinderrolle lösen will und muss, um die nächsten Schritte zum Erwachsenwerden gehen zu können. Als Kind hat er seine Eltern z.B. geliebt und sich an Ihnen orientiert. Um seine eigene Identität als Persönlichkeit zu finden, muss die/der Jugendliche sich aus den kindlichen Abhängigkeiten befreien und ein neues Verhältnis zu seinen Eltern, aber auch zur übrigen Erwachsenenwelt finden. Das bedeutet, dass sie/er sich gegen die Eltern stellen muss und das geht nicht ohne Konfrontation, ohne Konflikte. Ähnliches erleben auch die Lehrer im täglichen Umgang mit den SchülerInnen.
Die vielfältigen Konfliktsituationen mit den Kindern und Jugendlichen fordern die ErzieherInnen und LehrerInnen täglich in ganz besonderer Weise heraus. Sie müssen spontan in möglichst pädagogischer Weise auf unterschiedlichste Ansprüche und Anforderungen reagieren, z.B. Grenzen ziehen, etwas durchsetzen, vermitteln, ordnen, Formloses in Formen bringen etc.
Jeder kennt solche Situationen, in denen er sich bis an die Grenzen seiner Möglichkeiten herausgefordert, vielleicht auch überfordert fühlt. Ein Merkmal ist in der Kind-Erwachsenen-Situation aber immer vorhanden: Allein auf Grund ihres Alters, ihrer Aufgabenstellung haben Erwachsene eine personale und funktionale Dominanz gegenüber den Kindern. Wenn nun Grenzsituationen durchzustehen sind, können das manche Erwachsene nur ertragen und seelisch durchstehen, weil sie ein gewisses Übergewicht, Macht haben und Mittel in der Hand haben, die „Konfliktpartner“ zu disziplinieren bzw. „die Oberhand zu behalten“. Darin liegt auch die Gefahr, den (strukturell schwächeren) Konfliktpartnern in einer Haltung der Dominanz zu begegnen.
Kommen Menschen mit solchen täglichen Berufserfahrungen nun auf die Ebene der gleichberechtigten Erwachsenen in Konflikte, so ergibt sich eine besonders schwierige Situation. ErzieherInnen und LehrerInnen neigen dazu, ihr durch ihren beruflichen Alltag geprägtes Rollenverhalten – also z.B. durch Dominanz, eine Situation zu klären – auch auf der Ebene der Erwachsenen anzuwenden. Andererseits sind sie aber durch die ständigen kleinen Konfliktsituationen mit den Kindern besonders empfindlich gegenüber weiteren Konflikten außerhalb ihrer pädagogischen Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen.
Diese Sensibilität einerseits und die gewohnheitsmäßig eingenommene Rolle des dominanten Partners können nun in kollegialen Konflikten oder in Konflikten mit den Eltern besondere Reaktionen hervorrufen. So gilt beispielsweise unter Eltern die Meinung bzw. Erfahrung, dass LehrerInnen auf Kritik besonders sensibel reagieren, dass sie sich sofort beurteilt und angegriffen fühlen und dementsprechend gekränkt, beleidigt, abwehrend, angreifend o.ä. reagieren (wo man solche Reaktionen normalerweise nicht erwarten würde). Einen anderen Aspekt beschreibt ein Scherzrätsel:“ Was ist der Unterschied zwischen einem Lehrer und dem lieben Gott? Der liebe Gott weiß alles, der Lehrer weiß alles besser!“
Die meisten von uns tragen in sich ein unterbewusstes Bedürfnis nach Harmonie mit ihrer Umwelt, nach positiver Resonanz und friedlich-wohlwollendem Zusammensein. Dies soll hier nicht näher untersucht werden. Wir haben es aber im Umgang von Menschen immer damit zu tun. Daraus resultiert in der Regel eine Einstellung, die Konflikte vermeiden will, ja sogar Konflikte negativ bewertet. Es gibt aber auch das Gegenteil, das sich als Problemlösungsmechanismus oder Durchsetzungsmechanismus bei einem Menschen die Vorwurfshaltung, die kritische Distanzierung, die abwertende Beurteilung oder Ähnliches bewährt haben und unbewusst eingesetzt werden. Das führt laufend zu Reibung und Abgrenzungserlebnissen, in denen sich diese so gearteten Menschen selbst erleben können und sicher fühlen.
Im kollegialen Verhältnis zwischen den LehrerInnen führt der erstgenannte Aspekt vielfach zu bewusst neutralen Verhaltensweisen im Sinne von: „Wenn ich Dich nicht angreife, greifst Du mich auch nicht an.“ Andererseits gibt es den Lehrern des zweitgenannten Verhaltenstyps eine zum Teil starke Dominanz im Kollegium. Sie finden dadurch wenig Widerstand und können sich in vielen Fällen gut durchsetzen. Auch schwerwiegendere kollegiale Konflikte werden von den Harmoniebedürftigen oft lange ausgehalten bis zum Wechsel an eine andere Schule, manchmal auch bis zur Pensionierung. Auf diese Weise werden viele kollegiale Probleme tabuisiert, aus der direkten Kommunikation ausgeklammert. Das hat wiederum zur Folge, dass über nicht im „öffentlichen“, d.h. dafür vorgesehenen Rahmen geäußerte Probleme, die aber dennoch als wesentlich empfunden werden, dann viel indirekte Kommunikation entsteht (von der aber der/die Betroffene oft lange Zeit nichts merkt und erfährt). Das zeigt sich in verschiedenen Formen der informellen Kommunikation wie z.B. Gerüchten, stundenlangen Telephonaten im Umkreis, Parkplatzgesprächen, informellen Zirkeln etc.. Wir haben es mit kalten Konflikten zu tun, die im Untergrund wirken und nicht offenbar werden – und damit nicht bearbeitbar sind.
Für LehrerInnen an anderen Schulen als Waldorf-Schulen kommt erschwerend hinzu, dass sie mit der Vergabe von Noten, Versetzungszeugnissen und qualifizierenden Abschlüssen Machtmittel in der Hand haben, von denen Schüler und Eltern abhängig sind und vor denen diese Angst haben. So wird von Schülern und Eltern vielfach der Missbrauch dieser Machtmittel gefürchtet. Aus dieser Furcht entsteht häufig schon das Gefühl des drohenden Machtmissbrauchs, der dann auch Menschen zugeschrieben wird, die das gar nicht beabsichtigen. Diese Angst behindert eine offene Kommunikation, vor allem seitens der Eltern und SchülerInnen, insbesondere wenn es um Kritik an einer LehrerIn geht. Andererseits haben SchülerInnen und Eltern mit ihrer Kritik auch eine gewisse Machtposition, da die Beurteilung eines Lehrers in großem Maße von der Zufriedenheit der SchülerInnen und der Eltern abhängt, in der Regel mehr als von der Bewertung durch sein KollegInnenSo steht der Lehrer unter einem erheblichen Erfolgszwang in seiner Tätigkeit, was ihn wiederum gegenüber Kritik besonders sensibel macht . Der Lehrer ist durch sein großes soziales Engagement aber besonders auch auf ein positives Feedback angewiesen, weil er das als Bestätigung seines Einsatzes für die Schüler erlebt.
Also sind LehrerInnen auch von dieser Seite her einen offenen Umgang mit Kritik nicht so gewöhnt, wie andere Berufe. Weiterhin kommt verschärfend hinzu, dass auf Grund der erschwerten offenen Kommunikation sich die Probleme im sozialen Feld Schule über längere Zeit aufstauen und dann häufig vehement oder explosiv äußern. Eltern und Schüler kritisieren meist einen Lehrer erst dann offen, wenn sie glauben, Aussicht auf Erfolg zu haben und z. B. genügend „Material“ für eine moralisch gerechtfertigte oder sogar rechtlich sichere Position haben.
So empfinden sich viele LehrerInnen in Schulen in öffentlicher Trägerschaft in der Situation, dass ihr pädagogisches Handeln auf Grund der starken Formalisierung durch Lehrplanvorgaben, Beurteilungsrichtlinien etc. so gestaltet sein muss, dass es in Bezug auf die vermittelten Inhalte und in Bezug auf die Bewertung jederzeit einer rechtlichen Überprüfung standhalten kann, die von unzufriedenen Eltern und Schülern in den letzten Jahren vermehrt angestrengt werden.
Wie sehen nun kollegiale Konflikte in dem besonderen Schultyp einer selbstverwalteten, einer Freien Schule wie der Freien Waldorfschule aus? Dort gibt es weder formale Hierarchien noch ein System des Aufstieges mit Beförderungen, die jeweils mit höherer Bezahlung verbunden sind, weder Benotungen der Schülerleistungen noch die Nichtversetzung in die nächste Klasse, und auch keine entsprechenden Verordnungen, um nur einige Beispiele zu nennen. Ähnliche bzw. vergleichbare Situationen lassen sich vielleicht auch in manchen anderen Freien Schulen, Experimentierschulen, Landschulheimen… finden.
Als Oberstufenlehrer und geschäftsführender Vorstand einer zweizügigen Freien Waldorfschule, insbesondere aber als Entwicklungsbegleiter und Schulberater von verschiedenen Freien Waldorfschulen im In- und Ausland bin ich in den letzten 30 Jahren sehr vielen kollegialen Konfliktsituationen begegnet. Dabei habe ich mich immer wieder gefragt, was denn das besondere an diesen Situationen ist und ob (und warum) sie an den Freien Waldorfschulen eine andere Qualität haben als an anderen Schulen. Aus meiner Sicht gibt es eine Reihe von Faktoren, die die Arbeit in einem Waldorfkollegium von der Arbeit in einer anderen Schule unterscheiden.
Ein wesentlicher Unterschied zu anderen Schulen liegt in der Selbstverwaltung des Kollegiums in der Freien Waldorfschule. Sie bezieht sich vor allem auf 3 Bereiche: die pädagogischer Arbeit, die Zuwahl und Abwahl von LehrerInnen, die Organisation der Schule.
In der pädagogischen Arbeit kann jeder LehrerIn selbstverantwortlich innerhalb eines sehr weit gefassten Rahmenlehrplanes den eigenen Unterricht sowohl inhaltlich als auch methodisch selbst gestalten. Das Prinzip des exemplarischen Lernens erfordert, dass der LehrerIn die für die jeweilige Klasse besonders geeigneten Inhalte und Methoden selbst bestimmt. Dadurch gibt es verschiedene Lösungen und Konzepte für das gleiche Fach in der gleichen Klassenstufe in derselben Schule. Dadurch können sich einerseits die kreativen Fähigkeiten der einzelnen LehrerInnen in der Unterrichtsgestaltung entfalten, andererseits können dadurch aber auch Unsicherheit und Überforderung der LehrerIn entstehen als auch die Problematik, in allem doch auch eine gemeinsame Linie der Waldorfpädagogik zu behalten. Damit sind Konflikte in diesem Feld wahrscheinlich sowohl zwischen den Lehrern als auch zwischen Eltern und Lehrern, sobald es z.B. um die Frage geht: „Ist das, was diese LehrerIn macht wirklich richtige Waldorfpädagogik?“
Die Zu- und Abwahl der LehrerInnen durch die Gemeinschaft des Kollegiums ermöglicht eine Auswahl der geeigneten BewerberInnen in einem Verfahren, das sich auf die spezielle Eignung des einzelnen Menschen bezieht, und weitgehend unabhängig von Prüfungsnoten und Laufbahnvorschriften ist. Darin liegt die große Chance, ein Team zusammenstellen zu können, das wirklich gut zusammenarbeiten kann und im Großen und Ganzen die gleichen Ziele verfolgt. Dies gibt den einzelnen LehrerInnen die Möglichkeit, die eigenen Motivationen in die Arbeit einzubringen. Andererseits liegt hier aber auch eine Quelle für Konflikte, da man sich im Kollegium auf die Zuwahl eines bestimmten Menschen einigen muss. Nicht immer sind die Kriterien und die Bewertungen eindeutig, häufig divergieren sie. Wenn dann ein Kollegium noch dazudie Einmütigkeit als Entscheidungsregel vereinbart hat, können die Einstellungsentscheidungen zu quälenden Marathonsitzungen werden. Man kann sich vorstellen, dass die Entscheidung über die Kündigung einer LehrerIn sich in einer solchen Struktur noch viel schwieriger gestaltet und zu Parteibildungen und Spaltungen in einem Kollegium führen kann, wenn die einen die Kündigung wollen, die anderen aber die LehrerIn unbedingt halten wollen.
Der LehrerIn kann durch das Prinzip der Selbstverwaltung auch an der Gestaltung der Organisation der Schule mitwirken. In der Regel sind die verschiedenen Bereiche der Verwaltung einer Freien Waldorfschule an einzelne LehrerInnen delegiert, die alleine oder als Gruppe jeweils einen Bereich, z.T. auch mit Entscheidungskompetenz, bearbeiten, z.B. die Vorauswahl der BewerberInnen für offene Stellen, z.B. Unterrichtsplanung, z.B. Vertretungen, z.B. Außenvertretung der Schule und Öffentlichkeitsarbeit, z.B. das Kulturprogramm der Schule in Kooperation mit verantwortlichen Eltern. Dies erfordert vom Einzelnen und vom Kollegium ein hohes Maß an bewusster Arbeitsteilung und innerer Disziplin sowie an Gesamtbewusstsein und Verantwortlichkeit gegenüber dem Ganzen.
Sind diese Voraussetzungen teilweise nicht gegeben oder sind die Arbeitsformen ungenügend ausgebildet, kann die Selbstverwaltung auch zu einem Problem einer Waldorfschule werden. Beispielsweise dauern dann auch wichtige Entscheidungsprozesse oft lange oder führen zu unbefriedigenden Kompromissen. Manchmal fühlen sich einzelne LehrerInnen nicht genügend beteiligt, andere fühlen sich zu stark mit nicht-pädagogischen Aufgaben belastet, wiederum andere meinen aus einem demokratischen Verständnis heraus, dass alles in der Konferenz besprochen werden müsste. So können die unterschiedlichen Erwartungen an Selbstverwaltung gerade durch die Form der Selbstverwaltung zu kollegialen Problemen führen.
Ein wesentlicher Aspekt der Kollegialverfassung der Freien Waldorfschulen besteht darin, dass alle LehrerInnen gleichberechtigt zusammenarbeiten. Solche „demokratischen“ Arbeitssituationen werden heute von vielen Menschen gesucht. Sie bergen aber auch die Gefahr großer Enttäuschungen in sich, da sich in der Lebenspraxis immer auch die unterschiedlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten der einzelnen Menschen ausprägen. In dem Wunsch nach Gleichberechtigung steckt häufig eine Tendenz zur Gleichmacherei, mit der sich die „Schwächeren“ vor den „Stärkeren“ schützen wollen. Auch in solchen Formen des Zusammenarbeitens gilt: „Das Bessere ist der Feind des Guten.“ Die Gleichberechtigung wird aber immer nur in einem bestimmten Bereich der gemeinsamen Arbeit zu verwirklichen sein, während in anderen Bereichen, in denen es stärker auf die Kompetenzen und die Fähigkeiten ankommt, immer Ungleichheiten zwischen den zusammenarbeitenden Menschen vorhanden sein werden.
Eine der Gefahren in der selbstverwalteten Zusammenarbeit besteht in vielen Freien Waldorfschulen darin, dass Erwartungen an die Zusammenarbeit als unausgesprochene Anforderungen oder Richtlinien vorhanden sind, aber weder explizit definiert, noch auf bestimmte Arbeitssituationen bezogen, noch in klaren Vereinbarungen festgelegt werden. So kann sich einer auf die freie Initiative berufen, mit der etwas durchführen will, während der andere in gleichen Sache im Sinne der Gleichberechtigung fordert, dass er vorher gefragt werden müsse, wenn ein anderer so etwas machen wolle.
Eine weitere Besonderheit der Freien Waldorfschulen ist die kontinuierliche wöchentliche Zusammenarbeit in den Lehrerkonferenzen, die sich in der Regel am Donnerstag meist über 4 bis 6 Stunden erstrecken und ergänzt werden durch Fachkonferenzen und Klassenkonferenzen .Dies bringt eine große Nähe in der Zusammenarbeit und bietet vielfältige Chancen für Kooperation und Weiterentwicklung sowohl des einzelnen Lehrers als auch der pädagogischen Konzepte.
Diese Möglichkeit wird zum Problem, wenn die menschlichen Verhältnisse zwischen einzelnen Kollegen oder auch Gruppen des Kollegiums gestört sind. Selbstverantwortlich und gleichberechtigt miteinander zu arbeiten, erfordert von und Fähigkeiten, die wir in unserer Ausbildung oft nicht lernen konnten. Konstruktiven Bearbeitung von Konfliktsituationen muss geschult werden, sonst können solche Störungen zu seelischen Verletzungen führen, die, wenn sie nicht bearbeitet werden, gravierende zwischenmenschlichen Verknotungen bewirken, die oft nicht bemerkt werden oder aber unterdrückt werden. In der Regel sind die LehrerInnen nicht geschult im Erkennen und Bearbeiten von Konflikten, sondern es bleibt meistens eine Frage der individuellen „Begabung“.
Hier könnte eine regelmäßige Begleitung durch Dritte, z.B. für den Schulbereich besonders ausgebildete externe Supervisoren oder spezielle Schulberater in vielen Fällen entlastend und schlichtend wirken. Die externen Begleiter haben die Möglichkeit, z.B. den einzelnen Lehrern zu helfen, ihre soziale Situation zu klären oder z.B. dem Kollegium bessere Arbeitsformen zu finden. Ebenso kann ein Kommunikations-Training helfen, bestehende Kommunikationsbarrieren zu erkennen und abzubauen. Vor allen müsste schon in der Lehrerausbildung die Schulung der sozialen Kompetenz sehr viel stärker beachtet werden. Ebenso könnten dort auch die Fähigkeiten zur Konfliktbearbeitung und Konfliktlösung geübt werden.
Diese gerade angedeuteten strukturellen Schwierigkeiten in der kollegialen Zusammenarbeit der LehrerInnen führen leider gar nicht so selten dazu, dass LehrerInnen, die mit ihrer Klasse eigentlich gut zurechtkommen, manchmal auch mit den Eltern noch gut zurechtkommen, aus kollegialen Gründen die Waldorfschule wieder verlassen, um eine andere Schule zu suchen, die in den sozialen Prozessen zwischen den Lehrer weniger aufwendig und anstrengend ist (und damit auch weniger Reibungsverluste hervorbringt). So können die Situationen, die für den einen mehr oder weniger willkommene Herausforderungen zur Entwicklung seiner Persönlichkeit sind, für einen anderen Menschen so stark belastend wirken, dass er sich dem „sozialen Stress„ nicht mehr gewachsen fühlt.
Auf Grund des speziellen pädagogischen Ansatzes und des damit verbundenen Selbstverständnisses kann man in den meisten Freien Waldorfschulen auch eine gewisse Freude und sogar Begeisterung für den Einsatz als LehrerIn in dieser Schulform finden. Diese Freude basiert auf einem Gefühl der Selbstbestimmung seiner eigenen Arbeit und einer damit verbundenen Sinngebung und Sinnhaftigkeit, die einen zur Verwirklichung seiner Lebensziele manche Unbequemlichkeit in Kauf nehmen lassen und die LehrerInnen für einen größeren Einsatz für die Schule motivieren. So ist einerseits ein größeres pädagogisches Angebot als auch andererseits eine stärkere individuelle Betreuung der Schülerinnen und eine stärkere Zusammenarbeit mit den Eltern möglich. Diese Bereitschaft zum Engagement birgt aber immer auch zwei Gefahren in sich:
- Die Gefahr der Selbstüberforderung durch zu hohe Ansprüche an sich (und an die anderen) und
- die Gefahr der Enttäuschung, weil die Ideale, die man in dieser Gemeinschaft gesucht hat, nicht in der Weise zu verwirklichen sind, wie man sich das vorgestellt hat.
So kommt es vor, dass Menschen, die ein bestimmtes pädagogisches oder soziales Leitbild in sich tragen, von einem Idealbild von Waldorfschule angezogen werden, das in der Literatur zu finden ist, aber dann in der Lebenspraxis feststellen müssen, dass die Umsetzung teilweise weit hinter den Idealen zurückbleibt. Diese Diskrepanzerlebnisse sind nur schwer zu verarbeiten, denn die Menschen, die Lehrer an Waldorfschulen geworden sind (oder auch mitarbeitende Eltern), haben oft sehr viel in ihre Ausbildung oder in ihre Arbeit in der Schule investiert, viel Verzicht geleistet, um der Verwirklichung ihrer Berufs- und Lebensziele näher zu kommen. Wenn dann die Diskrepanz zwischen den Idealen und den Möglichkeiten der Verwirklichung zu groß wird, bricht eine Lebenshoffnung zusammen. Dies kann eine erhebliche Erschütterung des eigenen Weltbildes und Selbstbildes sowie des eigenen Selbstgefühls zur Folge haben.
Die Möglichkeiten, dieses verarbeiten, sind bei einzelnen Menschen sehr verschieden. So gibt es Menschen, die gestärkt und realitätsbewusster aus solch einem Prozess hervorgehen. Es gibt aber auch andere, die psychisch und oft dann auch physisch an den Rand ihrer Möglichkeiten kommen und die typischen Symptome des „burn out“ zeigen. Andere wiederum reagieren z.B. mit psychosomatischen Krankheiten. Auch die Projektion, das heißt die Übertragung der Schuld auf die anderen mit dem Erlebnis, selbst das Opfer zu sein, oder auch Aggression, die einen das bekämpfen lassen, was man vorher geliebt hat, sind mögliche und bekannte Reaktionsmuster.
Zu den geschilderten speziellen Bedingungen der LehrerInnen für den Umgang mit Kritik und Konflikten und zu dem in Schulen allgemein besonders ausgeprägten Mangel an offener Kommunikation kommen an der Freien Waldorfschule zusätzlich noch spezielle Bedingungen hinzu: z.B. der Anspruch auf einen individuellen Schulungsweg des Lehrers , der durch Selbsterkenntnis und Selbstkritik helfen soll, sich als Mensch weiterzuentwickeln und damit seine Fähigkeit als LehrerIn zu steigern, sowie die Auseinandersetzung mit der Anthroposophie im weitesten Sinne. Der daraus resultierende Erwartungsdruck an sich selbst und an die anderen erschwert die offene Kommunikation häufig noch mehr – anstatt sie zu fördern, wie es eigentlich in dieser persönlichen Schulung angelegt ist.
Weiterhin wird häufig z.B. das Schulungselement der Positivität, also das Bemühen um eine positive Einstellung zum Leben und allen Dingen, die einem begegnen, mit Harmoniezwang verwechselt – dem Nicht-Sehen und Nicht-Ansprechen von Unangenehmen.. Das führt Fällen zu einem Zurückhalten von Eindrücken, die kritisch oder problematisch erscheinen. Kritik. So können Scheinbilder von kollegialer Zusammenarbeit und damit verbundene latente Konflikte entstehen. Werden diese durch irgendwelche Ereignisse offenbar und damit akut, scheinen sie übermächtig, zumal hat man in der Regel nicht die Formen und Fähigkeiten entwickelt, offen und konstruktiv damit umzugehen.
Hierdurch können sich Wirkungen verstärken, die in Institutionen ohnehin strukturell angelegt sind. So gibt es in jeder Organisation eine strukturelle Macht, die die Institution als solche gegenüber dem einzelnen hat und die in der Regel durch die „Vorgesetzten“ ausgeübt wird. Um dem Missbrauch dieser Macht vorzubeugen, sind Verfahren und Regeln eingeführt, die die Anwendung dieser Macht kalkulierbar machen. Nun haben wir in der Selbstverwaltung der Freien Waldorfschulen eine Organisation ohne formale Hierarchie und häufig auch ohne bewusst festgelegte Verfahren des Umgangs der „Organisation“ mit dem Einzelnen.
Oft wird die Macht des Kollegiums gegenüber dem Einzelnen gar nicht bewusst ist bzw. geleugnet, zumindest solange keine Konflikte auftreten. Wo formale Hierarchien fehlen und zu wenige Verfahren festgelegt sind, bilden sich in der Regel informelle Machtverhältnisse bzw. Hierarchien aus, die häufig nur von „Insidern“ gekannt und durchschaut werden. Das kann bei allen andern Beteiligten Gefühle der Unsicherheit, der Angst, der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins hervorrufen. Insbesondere in als strittig empfundenen Kündigungsverfahren machen sich mangelnde Eindeutigkeit und Durchschaubarkeit z.B. von Anforderungskriterien oder von internen Verfahren als Schwächen bemerkbar. Häufig führt dies dann zu Erklärungsmustern wie „Verschwörungstheorien“ oder „Dolchstoßlegenden“.
Die Ideale einer freien gleichberechtigten kollegialen Zusammenarbeit in einer Freien Waldorfschule können dadurch in ihr Gegenteil verkehrt werden. Diese letztgenannten kollegialen Probleme sind kein Spezifikum der Freien Waldorfschulen, denn sie resultieren aus dem Modell der Selbstverwaltung und den damit verbundenen Erwartungen und strukturellen Schwächen, die bestimmte menschlichen Schwächen viel mehr zum Tragen kommen lassen als die traditionellen Führungsstrukturen. Der pädagogische Ansatz der Freien Waldorfschule, die Erziehung zu selbstbestimmtem, freiheitlichem Handeln aus individueller Einsicht, erfordert die Möglichkeit der Selbstbestimmung der LehrerIn, um die eigene Selbstverantwortung in der Praxis der Selbstverwaltung übend zu erlernen.
Trotz all dieser Mühen und Probleme der Selbstverwaltung halte ich das Leitbild, dass nur selbstbestimmte und selbstverantwortliche Lehrer auch selbstbestimmte und selbstverantwortliche junge Menschen erziehen können, nach wie vor für richtig und damit auch den Ansatz der „republikanischen Selbstverwaltung“ der Lehrer in der Freien Waldorfschule. Allerdings bedarf einer ganz bewussten sozialen Schulung der in dieser Form zusammenarbeitenden Menschen sowie klar definierter selbstgewählter Formen und Verfahren, die helfen, die Schwächen, die durch jeden einzelnen Menschen hereingetragen werden, in der richtigen Weise auszuhalten und zu kompensieren. Hier erweist es sich auch für die Freie Waldorfschule als sinnvoll, externe Begleiter in regelmäßigen Abständen hinzuzuziehen, um zusammen mit dem Lehrerkollegium die Formen der Zusammenarbeit zu reflektieren und auftretende Spannungen und Unverträglichkeiten rechtzeitig konstruktiv zu verarbeiten. Weiterhin können mit externer Moderation die Kommunikationsfähigkeiten durch Übungen gesteigert werden und Formen der Zusammenarbeit und der Entscheidungsfindung gemeinsam geübt werden.
Die Stärken und die Schwächen eines Menschen (oder einer Organisation) liegen in der Regel sehr nahe beieinander, so dass die Schwächen in Stärken bzw. die Stärken in Schwächen umschlagen können. Das bedeutet, dass etwas, was in einer Situation oder unter bestimmten Bedingungen eine Stärke ist, in einer anderen Situation oder unter anderen Bedingungen als Schwäche wirksam werden kann – und umgekehrt.
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