Umgang mit hochsensiblen Kindern in der Schule
Ausgangssituation
In allen Schulen, vor allem aber in Freien Waldorfschulen haben wir seit einigen Jahren mit einem ständigen Anwachsen der Anzahl von Kindern mit besonderem Bedarf zu tun. Sie bedürfen auf Grund der verschiedensten Ursachen einer besonderen Förderung. Es werden ihnen vielfältige Diagnosen gestellt und spezielle Förderprogramme entwickelt, die für eine Reihe von Kindern auch wirklich hilfreich sind.
Aufgrund der Forschungen und langjährigen Erfahrungen von Michael und Johannes Harslem beschäftigen wir uns seit einigen Jahren mit einer besonderen Ausprägung: Der Gruppe der hochsensiblen Kinder, die wahrscheinlich etwa bis zu 20% einer Schülerschaft ausmachen können, denen aber mit den üblichen Förderprogrammen in der Regel nicht geholfen werden kann. Die meisten von ihnen sind gleichzeitig hochbegabt. Die meisten sollen auch nach dem Willen ihrer Eltern keiner Förderbedarf-Feststellung unterzogen werden, weil sie diesen Stress nicht gut aushalten und dadurch in der Regel falsche Ergebnisse erzeugen.
Wir können im Wesentlichen vier Gruppen dieser hochsensiblen Kinder unterscheiden:
- Eine ganze Reihe von Ihnen kommt sehr gut, zum Teil als „Überflieger“, die Klassen überspringen, oder wenigstens „geräuschlos“ durch die Schulzeit. Ihr Problem ist höchstens, dass sie sich zu sehr langweilen. Sie fühlen sich aber so sicher und haben sich so gut in der Hand, dass sie das aushalten können.
- Ein weiterer Teil der hochsensiblen Kinder leidet zwar unter der großen Ansammlung von Menschen, dem Lärm, zum Teil auch unter der Langsamkeit der übrigen, kann das aber kompensieren, ist zwar stärker angestrengt, wird dadurch jedoch weder krank noch auffällig.
- Eine weitere Gruppe leidet so stark unter den vielen Reizen und den vielen Menschen, dass sie so in Stress gerät, dass sie den ganzen Schultag, ja teilweise sogar einzelne Unterrichtsstunden nicht durchhalten kann. Diese Kinder und Jugendlichen brauchen eigentlich immer wieder kurze oder längere Auszeiten während des Schultages, um bis zum Ende durchzuhalten. Der Stress hält sich aber in der Regel noch so in Grenzen, dass es noch nicht oder selten zu Übersprungreaktionen kommt.
- Für bestimmte Schüler ist die Empfindlichkeit und dadurch die Reizüberlastung so groß, dass sie oft schon im Elternhaus oder durch die Fahrt mit dem Schulbus oder durch das Gedrängel beim Eingang in die Schule und in die Klasse oder durch die anderen Kinder in der Klasse in so starken Stress kommen, dass sie eigentlich nichts mehr aufnehmen, also auch nicht mehr lernen können. Sie sind ständig an der Grenze von Stress zur Panik, wodurch es immer wieder zu unkontrollierten Übersprungreaktionen in verschiedene Richtungen kommt, die sie besonders auffällig werden lassen.
- Je nach Veranlagung und Typ schützen sich diese Kinder durch inneren und äußeren Rückzug, was bis zu seelischen Lähmungserscheinungen gehen kann und dann häufig als Depression diagnostiziert wird, oder zu partiellem oder totalem Mutismus führen kann oder dann oft dem Autismus-Spektrum zugeordnet wird – oder auch zum Teil durch Speckpolster, was dann wieder soziale Ausgrenzungen nach sich zieht und zu noch mehr Stress führt. Sie entwickeln verschiedene Schutz- und Entlastungsmechanismen. Manche suchen Zuflucht auf dem WC, andere sitzen unter dem Tisch, andere werden apathisch etc.
- Die andere typische Reaktionsweise ist die Aktion nach außen, also Entlastung durch überhöhten Bewegungsdrang, durch die Klasse laufen, andere Kinder stören, schubsen, mit dem Stuhl wackeln, auf den Tisch klopfen etc. Bei zu hohem Stress oder Panikzuständen kommt es zum Umsichschlagen oder aggressiv auf andere losgehen oder Zerstörungsverhalten, was deutliche Übersprungreaktionen sind, die nicht mehr kontrolliert werden können.
Ursachen
Unserer Erfahrung nach wird die Disposition der Hochsensibilität bei den verschiedenen Diagnosemethoden bis heute in der Regel nicht erkannt, weil das nicht getestet wird. Falls die Eltern jedoch die Besonderheit ihres Kindes anerkennen und es nicht als Problem empfinden, können diese Kinder sich sehr gut entwickeln und bei sorgsamem Umgang mit Überlastungssituationen auch gut durch Kindergarten und Schule kommen.
Wenn Eltern jedoch die spezielle Situation ihres Kindes nicht verstehen und negativ auf die verschiedenen Phänomene und Verhaltensweisen, die ihr Kind zeigt, reagieren, werden diese Kinder in zunehmendem Maße auffällig. Die Eltern oder auch Erzieher*innen und Lehrer*innen nehmen das Kind zunehmend als Problem war und reagieren ablehnend darauf.
Das führt meist schon im häuslichen Umfeld, später dann im Kindergarten und in der Schule dazu, dass diese Kinder sich ständig unter Beobachtung empfinden, sich unverstanden fühlen und dadurch häufig verzweifelt sind. Dadurch sind die Kinder in einer ständigen, von der Umgebung implizierten, aber nicht verstandenen Stress-Situation. Wenn es zu viel wird, neigen sie auch zu Panikattacken.
Je nach Erziehungsstil und Elternhaus entwickeln sie verschiedene Mechanismen, um mit der Reizüberflutung und Überlastungssituation sowie den negativen Zuschreibungen und Zuwendungen, denen sie ständig ausgesetzt sind, umgehen zu können. Die Folge davon sind verschiedenste Auffälligkeiten, die in der Regel dazu führen, dass auch schon bei Kleinkindern verschiedenste Tests und Diagnosen durchgeführt werden, um herauszufinden, wo die Probleme liegen, und die richtigen Therapien dafür zu finden. Häufig wird dann ADS, ADHS, LRS, Dyskalkulie, emotional-soziale Störung, Depression, bis hin zum Autismus-Spektrum diagnostiziert. Für hochsensible Kinder bedeutet dies jedoch immer noch mehr Stress und führt dadurch häufig zu noch mehr Auffälligkeiten. Die daraus abgeleiteten Fördermaßnahmen verstärken in der Regel ebenfalls den Stress und sind deshalb weitgehend wirkungslos bzw. kontraproduktiv.
Weitere Merkmale dieser Kinder sind:
- ihr sicheres Gespür für Wahrhaftigkeit, sie halten Unwahrhaftigkeit nicht aus
- ihre Selbstständigkeit und Freiheitsliebe, sie halten überhaupt keinen Zwang aus! Druck provoziert sie zum Widerstand – bis zur vollständigen Verkrampfung
- ihr Mut und Furchtlosigkeit, sie sagen offen, was sie empfinden und denken
- ihre Fähigkeit, die Gefühle und Gedanken der anderen wahrzunehmen.
Mögliche Lösungen im Elternhaus
In erster Linie geht es in unserer Arbeit mit diesen Kindern darum, dass die Eltern verstehen lernen, dass die Hochsensibilität ihres Kindes die Ursache für die verschiedenen Auffälligkeiten ist. Ziel ist dabei, dass die Eltern ihr Kind so annehmen lernen, wie es ist, damit es wenigstens zu Hause eine Zone hat, in der es sich wirklich sicher fühlen kann und nicht ständig in Stress kommt. Das ist aus unserer Sicht eine unabdingbare Voraussetzung, dass die Maßnahmen in der Schule überhaupt Erfolg haben können.
Mögliche Lösungen innerhalb des Schulgebäudes
In der Schule muss man den vier verschiedenen oben genannten Gruppen hochsensibler Kinder jeweils verschiedene Lösungen anbieten:
- Der ersten Gruppe ist mit individualisiertem, kooperativem und selbstverantwortlichem Lernen und ausreichend differenzierten Angeboten, aus denen sie selbstverantwortlich auswählen können, gut geholfen. Dann können gerade Hochbegabte an ihren selbstgewählten Themen in ihrem eigenen Tempo ihre Potenziale voll entfalten und kommen damit gut bis sehr gut durch ihre Schulzeit.
- Diese Formen des Lernens kommen auch der zweiten Gruppe zugute, weil es dabei Zeiten des individuellen Arbeitens und des Lernens in der Kleingruppe gibt, die diesen Schülern eine Entlastung von der Reizüberflutung ermöglichen. Dafür müssen in der Schule die methodischen, zeitlichen und räumlichen Voraussetzungen gegeben sein bzw. geschaffen werden.
- Für die dritte Gruppe ist unbedingt ein Raum der Stille zu schaffen, in denen sich diese Kinder ganz selbstverständlich ohne Erklärungen zurückziehen können, sobald sie merken, dass es ihnen zu viel wird. Sie kommen dann in die Klasse zurück, wenn sie sich wieder erholt haben. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, dass diesen Kindern damit geholfen werden kann. Sie lernen, ihren Stresspegel wahrzunehmen, und gehen selbstverantwortlich damit um. Da sie eine so rasche Auffassungsgabe haben, holen sie das Verpasste in der Regel spielend nach.
Mögliche Lösungen außerhalb des Schulgebäudes
- Für die vierte o.g. Gruppe sind die Schule und die Klasse mit ihren vielen Menschen, den vielen Reizen durch Lärm, Räume etc. eigentlich als Lernort nicht geeignet.
- Eine bestimmte Gruppe dieser Schüler könnte in einem eigenen Raum in einer kleinen, altersgemischten Gruppe eigene Lernformen und Lernstrategien entwickeln, die ihnen angemessen sind. Der Raum sollte möglichst nicht im Zentrum der Schule liegen, sondern eher im Außenbereich mit einem eigenen Pausengelände angesiedelt sein.
- Bei noch stärker ausgeprägter Hochsensibilität, wobei diese Kinder meistens auch unter Traumatisierungen leiden, ist der gesamte Schulkomplex nicht der geeignete Lernort, da er meist durch negative Erfahrungen schon belastet ist. Für sie sollte an einem außerschulischen Lernort eine geeignete Lernsituation gefunden werden, wo sie in einer kleinen, altersgemischten Gruppe mit gutem Naturbezug und vielen praktischen Tätigkeiten ihre Traumatisierungen überwinden können und wieder Zugang zum Leben und zum Lernen finden können. Aus meiner Sicht hat jede Schule, vor allem jede Waldorfschule die Möglichkeit, mit einem bio-dynamischen Bauernhof, einem therapeutischen Reiterhof o.ä. als außerschulischem Lernort für diese Kinder zusammenzuarbeiten.
Ziel ist, durch die verschiedenen Maßnahmen diese speziellen, hochsensiblen Schülerinnen und Schüler so weit in ihre Sicherheit zu bringen und zu fördern, dass sie zu gegebener Zeit wieder am normalen Schulleben teilnehmen können.
In der Regel haben auch die Kinder der 4. Gruppe keine Diagnose für bestimmten Förderbedarf. Deshalb sollten diese Maßnahmen innerhalb des normalen Schulprogramms durchgeführt werden. Zusätzlich notwendig werdende Finanzmittel müssen durch Beiträge der Eltern und durch Spenden von Sponsoren oder Stiftungen aufgebracht werden.
Jedes dieser Projekte für den Umgang mit hochsensiblen Kindern in einer Schule kann von der Akademie für Entwicklungsbegleitung begleitet werden, damit es im Sinne der Praxisforschung angelegt und auswertet werden kann und die Ergebnisse dieser kleinen pädagogischen Studien anderen Interessierten zur Verfügung gestellt werden können.
Umgang mit hochsensiblen Kindern in der Schule
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Bild von lisa runnels auf Pixabay
Vielen Dank für diesen Beitrag. Ich habe eine Tochter, die in Gruppe 4 einzuordnen ist. Sie verweigert sich seit der ersten Klasse des öfteren monatelang der Schule. Trotz viel Mühe der Lehrerin ihr Raum zu schaffen ist sie immer wieder überfordert sich im großen Gruppenrahmen zurechtzufinden.
Vielen Dank für diesen hochinteressanten Beitrag! Unser Sohn, 12 J. Kl. 6, geht seit 1,5 Jahren kaum bis gar nicht zur Schule. Er ist hochsensibel und hochbegabt, ggf. gibt es noch eine ASS (Diagnostik seit 12 Monaten ausstehend wegen Wartezeiten von 14-19 Monaten). Ggf spielt auch selektiver Mutismus eine Rolle, daher bisher keine finale Diagnose bzw. Therapieverweigerung, aber die obige Beschreibung trifft es bei allem was wir bisher gelesen und uns angeeignet haben am besten. Ein Schulwechsel vor 10 Mon. war anfangs vielversprechend, dann aber die gleichen Probleme, d.h. er bewegt sich zwischen den Gruppen 3 und 4, je nach Umgebung und Rahmen, der aber an der aktuellen Schule (noch) nicht passend für ihn ist.
Daher unsere Frage: gibt es schon Erfahrungen mit den im Artikel beschriebenen Lösungen in/an bzw. ausserhalb der Schule? Sind Projekte bekannt?