Wenn es zwischen Lehrern kracht
Freie Waldorfschulen scheinen – von außen gesehen – oft eine »heile Welt« zu sein. Umso überraschter sind viele Lehrer und vor allem auch Eltern, wenn sie dann in der Schule Konflikte erleben, die nicht bearbeitet oder nicht gelöst werden.
Aus meiner Erfahrung als Entwicklungsbegleiter und Begleiter von Konflikten in über achtzig Waldorfschulen kann ich feststellen, dass
- die Konflikte zwischen Lehrern und Lehrern am schwierigsten zu bearbeiten sind. Meist sind es sogenannte kalte Konflikte. Sie schwelen über Jahre oder manchmal Jahrzehnte im Untergrund. Brechen sie auf, können sie ganze Kollegien oder Schulen spalten,
- jeder Konflikt offenbar nötig ist, weil das Problem nicht anders gelöst werden konnte,
- in jedem Konflikt die Chance zur Veränderung, zur Weiterentwicklung, zum Lernen liegt.
- Dass die Konflikte zwischen Lehrern so schwierig zu lösen sind, liegt daran, dass
- alle der gleichen Berufsgruppe angehören und damit die gleichen beruflichen Prägungen aufweisen,
- sie die gleiche Tätigkeit ausüben – zwar in unterschiedlichen Feldern/Fächern – aber mit dem gleichen Klientel und deshalb vor den Schülern, wie auch vor den Eltern tendenziell in Konkurrenz oder Interessenkonflikte geraten können.
Das erfordert eine besondere Wachheit und Bewusstheit im Umgang mit den dadurch entstehenden Konkurrenzsituationen und gegenseitigen Abhängigkeiten. Im positiven Fall arbeiten die Lehrer im Team gut zusammen und unterstützen sich gegenseitig, sowohl im eigenen Fachbereich als auch in verschiedenen Fächern untereinander. Die hierbei auftretenden Spannungen und Gegensätze können in der Regel gut und schnell bearbeitet werden und führen nicht zu Konflikten. Im negativen Fall treten dann Konflikte auf, wenn bei sachlichen Gegensätzen keine Verständigungsebene mehr gefunden werden kann und wenn deshalb diese Gegensätze auf die persönliche Ebene projiziert werden. Solange dies in einer offenen Auseinandersetzung geschieht, besteht zwar die Gefahr einer immer weitergehenden Eskalation, andererseits sind die Konflikte dadurch offensichtlich und bearbeitbar. Diese Konflikte bezeichnen wir als warme oder heiße Konflikte.
Kalte Konflikte – innere Emigration und Lähmung
Schwieriger wird es, wenn der Konflikt verdrängt oder unterdrückt oder sogar geleugnet wird, die destruktive Energie nicht mehr nach außen geht, sondern nach innen, der Konflikt für Dritte nicht mehr sichtbar ist. Oft wird er von einem oder beiden Konfliktbeteiligten so weit verdrängt, dass er normalerweise nicht mehr im Bewusstsein ist. Dann ist er nicht mehr bearbeitbar und wir sprechen von kalten Konflikten. Diese Vermeidungsstrategie löst aber keine Konflikte. Es sammeln sich immer mehr untergründige Unverträglichkeiten und negative Stimmungen an, die das Klima erst abkühlen lassen, dann jedoch zunehmend vergiften – oft bei oberflächlicher Freundlichkeit und scheinbarer Harmonie. In einem solchen sozialen Klima können konfrontative Menschen sehr viel Macht und Einfluss gewinnen, weil die anderen sich zwar ärgern, aber der Auseinandersetzung aus dem Weg gehen und »beidrehen«.
Wenn dieses Spiel einige Male funktioniert hat, setzen sich solche Menschen immer wieder durch – oft schon ohne konfrontativ werden zu müssen. Der Ärger der Betroffenen wird unterdrückt und auf dem Parkplatz oder im Lehrerzimmer unter der Hand geäußert. Diese Entwicklung führt zur sozialen Lähmung und innerer Emigration.
Es gibt aber auch Menschen, die Konfrontation suchen, weil sie Reibung und Widerstand brauchen, um sich selbst zu erleben. Sie heizen Konflikte an, indem sie jede Auseinandersetzung nutzen. Wie lange solche Situationen in der Gemeinschaft ertragen werden, hängt davon ab, wie viel Macht die konfrontativen Menschen haben und wie viele Abhängigkeiten von ihnen bestehen, weil sie wichtige Ämter innehaben und nicht ersetzbar scheinen.
Kalte Konflikte führen auf Dauer dazu, dass entweder die Lähmung immer größer wird, die Krankenquote steigt und Burn Outs auftreten – oder dass aus irgendeinem, häufig sogar nebensächlichen Anlass ein heißer Konflikt entsteht.
Da mit den Lehrern immer Schüler und damit auch Eltern zusammenhängen, lassen sich innerkollegiale Konflikte zwischen Lehrern meist nicht auf die Beteiligten begrenzen. So kommt es häufig zu einer Ausweitung der Arena, in die auch nicht direkt Beteiligte hineingezogen werden, was zu einer wachsenden Emotionalisierung und raschen Polarisierung des ganzen sozialen Feldes führt.
Wenn Machthaber entmachtet werden
Konflikte entstehen notwendigerweise dort, wo andere Möglichkeiten der Lösung nicht mehr zur Verfügung stehen oder gesehen werden. Konflikte gehören zum Leben. Sie bieten immer auch die Chance zur Veränderung und zur Erneuerung. Sie sind notwendig, damit etwas losgelassen werden kann, mit dem man stark verbunden ist. Die Frage ist nur, ob sie erkannt werden, wie mit ihnen umgegangen wird, und ob und in welchem Umfang sie die ihnen innewohnende destruktive Dynamik entfalten können.
Um sie erkennen zu können, muss die Aufmerksamkeit auf ihre Entstehung gelenkt werden. Jeder Veränderungsprozess in einem sozialen Organismus birgt die Möglichkeit, dass an dessen Themen latente Konflikte aufbrechen und heiß werden. Es geht dabei immer auch um Änderungen in Verhaltensweisen, in den Haltungen und auch in der Machtverteilung. Insbesondere der Versuch eine neue (horizontale) Führungskultur einzurichten, wird nach meist jahrelangem Laissez-Faire mit Selbstbedienungsgewohnheiten jeweils erhebliche Widerstände und Konfliktpotenziale mobilisieren.
Dies soll an einem Beispiel – der Einführung einer neuen Führungskultur – gezeigt werden. In einer Freien Waldorfschule werden nach langen, gründlich durchgeführten Prozessen zwei neue Führungsgremien mit klaren Aufgabenbeschreibungen und Befugnissen gewählt: eine Schulführung, die mit drei Menschen besetzt wird, und eine Personalführung, ebenfalls mit drei Menschen.
Im Wahlverfahren zeigt sich, dass einige der bisherigen »Machthaber« vom Kollegium nicht in die engere Wahl für diese Positionen genommen werden. Schließlich werden jeweils drei Menschen in einem transparenten Verfahren gefunden, die dann in der Wahl die Unterstützung einer großen Anzahl im Kollegium erhalten. Das Ganze wird in einer Führungsvereinbarung festgehalten und von allen Beteiligten unterschrieben. Alle sind froh, dass – nach Jahren der Unzufriedenheit und Lähmung – das Kollegium nun endlich wieder handlungsfähig geworden ist. Auch der Vorstand und die Elternschaft freuen sich, nun konkrete Ansprechpartner mit klaren Kompetenzen zu haben.
Dann beginnt die tägliche Arbeit dieser Gremien. Alle hatten sich bei der Aufgabenbeschreibung gewünscht, dass bestimmte Verhaltensweisen im Kollegium, die sozial unverträglich sind, demotivierend wirken und das zwischenmenschliche Klima belasten, nun endlich Konsequenzen haben müssten. Also versucht die Schulführung, eine Geschäftsordnung für das Kollegium aufzustellen, in der erwünschte Verhaltensweisen beschrieben werden und die Möglichkeit eingeräumt wird, dass bei Fehlverhalten sanktioniert wird. Bei der Beratung im Kollegium gibt es schon heftige Diskussionen, ob so etwas zulässig sei und mit dem Geist der Waldorfschule vereinbar sei oder nicht. Die latent vorhandenen zwei »Lager« im Kollegium werden plötzlich wieder erlebbar. Man einigt sich durch Mehrheitsbeschluss auf eine Probephase von einem halben Jahr für die Anwendung dieser neuen Geschäftsordnung des Kollegiums.
Nun müssen diese neuen Gremien handeln, um die in sie gesetzten Erwartungen nicht zu enttäuschen. Jetzt gilt es, bisher eingespielte Verhaltensweisen und Gewohnheiten zu verändern, damit etwas Neues entstehen kann. Das trifft auf wenig Gegenliebe, Widerstände regen sich, latente, kalte Konfliktpotenziale zeigen sich und werden bei einzelnen Menschen virulent. Die bisherigen »informellen Machthaber« spielen dabei eine zentrale Rolle. In der Regel kommen sie mit der neuen Führungs-Situation nur schwer zurecht. Weil sie nicht in die neuen Führungsrollen gewählt worden sind, sind sie gekränkt, versuchen, ihre Macht zu behalten, indem sie – meist weiter informell – gegen die neuen Führungsgremien arbeiten.
- Sie verweigern den neuen Führungsgremien die Unterstützung (passiver Widerstand),
- sie gehen in offene Opposition und versuchen, alle Maßnahmen infrage zu stellen,
- sie kritisieren ständig hinten herum oder auch offen an den Aktionen und Personen,
- sie halten sich – verdeckt oder auch demonstrativ – nicht an die neuen Vereinbarungen
- und provozieren damit Maßnahmen gegen sich, die sie dann lautstark als ungerecht anprangern und die ihnen die Möglichkeit geben, gegen die neue Führung vorzugehen (Machtkampf).
Standardvorwurf Machtmissbrauch
Ein weiteres Konfliktfeld für die neuen Führungsgremien entsteht durch Lehrerinnen und Lehrer, die pädagogisch oder kollegial einen schweren Stand haben, sei es aus inhaltlich-fachlichen, sozialen, menschlichen oder pädagogisch-methodischen Gründen.
Bei den mehr kollegialen Gründen wie zum Beispiel unpünktliches Erscheinen zum Unterricht, Versäumen von Vertretungen oder Aufsichten, unentschuldigtes Fehlen, keine oder sporadische Konferenz-Teilnahme hat die Schulführung die klar definierte Aufgabe, einzuschreiten.
Mögliche Reaktionen der Betroffenen sind, dass sie
- nicht reagieren, Hinweise und Ermahnungen ignorieren, die Vorwürfe »aussitzen«,
- alles zusagen, aber nichts tun – und damit immer wieder die Schulführung beschäftigen,
- sich bitter bei anderen über die Schulführung beschweren, negative Stimmung machen,
- sich ungerecht behandelt fühlen und die Schulführung anklagen,
- sich als Opfer fühlen und Helfer suchen, die sie in der Regel auch zu genüge finden,
- behaupten, man habe etwas persönlich gegen sie und würde auf ihnen herumhacken (Mobbingvorwurf),
- krank werden und die Schuld der Schulführung geben.
Da es hier stark ins Persönliche geht, wird dann in der Regel die Personalführung eingeschaltet, um in Gesprächen mit dem Kollegen die Situation zu klären und eine Besserung zu erreichen.
Es wiederholt sich dann das gleiche Spiel wie mit der Schulführung. Je nach Verhaltenstyp wird der Betroffene auch an die Öffentlichkeit des Kollegiums oder sogar der Eltern und der Schüler gehen und versuchen, dort jeweils Sympathisanten für sich zu gewinnen.
Noch schwieriger wird es für die Personalführung, wenn sie der in der Führungsvereinbarung festgelegten Erwartung gerecht werden soll, auf die pädagogische Qualität zu achten und diese zu verbessern. Hier muss sie sich in ein sehr heikles, in vielen Schulen tabuisiertes Gebiet begeben. Es erfordert einerseits viel Fingerspitzengefühl und andererseits aber auch Standhaftigkeit und Durchhaltevermögen, da sich gerade »schwache« Lehrer in der Regel sehr schnell angegriffen fühlen, wenn Kritik an sie herangetragen wird. Nicht selten trifft die Personalführung auf massive Abwehr des Betroffenen – aber auch anderer Kollegen, die verhindern wollen, dass ihre pädagogische Qualität ebenfalls hinterfragt werden könnte. Je nach Verhaltenstyp gelingt es manchen dieser Lehrer, zum Beispiel bei einer (berechtigten) Abmahnung ein ganzes Kollegium gegen die Personalführung aufzubringen.
Diese Kollegen versuchen, ihre pädagogischen Mängel auf der persönlichen Ebene zu verhandeln. Ein latenter Konflikt wird heiß. Eine beliebte Methode ist, den Führungsgremien Machtmissbrauch zu unterstellen – ein Vorwurf, der emotionale Resonanz hervorruft und spontane Solidarisierung mit dem Opfer bewirkt, besonders wenn Eltern und Schüler mobilisiert werden.
Wie können Führungsgremien geschützt werden?
Solche Konflikte können die Führungsgremien einer Schule sehr stark beanspruchen. Um nicht von Konflikten absorbiert zu werden, sollte bei Einrichtung neuer Führungsgremien zum Schutze der eigenen Arbeit unbedingt ein professionell besetzter Konfliktkreis eingerichtet werden. Dorthin können alle Konflikte gegeben werden, sodass sich die Führungsgremien damit nicht mehr befassen müssen. Dieses Organ sollte mit Menschen besetzt werden, die in Mediation oder Konfliktbearbeitung geschult sind. Diese sind heutzutage im Elternkreis einer Waldorfschule meistens zu finden. Ein solcher Konfliktkreis sollte auf transparente Weise eingerichtet werden und die dabei vereinbarten Spielregeln sollten mehrheitlich mitgetragen werden.
Die Waldorfschulen brauchen bei aller berechtigten Sorge vor den damit verbundenen Konflikten dringend eine neue Führungskultur. Führung bedeutet, die für den sozialen Organismus notwendigen Prozesse sozial verträglich und heilsam zu gestalten. Das gilt vor allem für Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse.
Die Aufgabe der Führungsgremien besteht vor allem darin, aus einem Problem einen Prozess mit allen Betroffenen zu machen, der so gestaltet ist, dass er zielgerichtet zur Lösung dieses Problems führt. Je sorgfältiger und transparenter diese Prozesse gestaltet werden, desto mehr Vertrauen wird die Führung der Schule im Kollegium und auch bei Eltern und Schülern gewinnen. Dieses Vertrauen gibt dann die nötige Rückendeckung zur Lösung auch schwierigerer Probleme und jedes in einem gut geführten Prozess gelöste Problem bestärkt das Vertrauen.
Damit kann Schritt für Schritt ein vielfältiges, das heißt auch bei kontroversen Meinungen friedliches und wohlwollendes Zusammenarbeiten entwickelt werden, bei dem Konfliktsituationen rechtzeitig erkannt, konstruktiv gelöst und als Entwicklungschance gesehen werden.
Wenn es zwischen Lehrern kracht
Artikel in der Erziehungskunst Februar 2015
https://www.erziehungskunst.de/artikel/krisen-konflikte/wenn-es-zwischen-lehrern-kracht
Bild von Steve Buissinne auf Pixabay