Zur Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern in der Schule

Zur Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern in der Schule

Aspekte zum Verständnis einer spannungsreichen Beziehung[1]

Erschienen in der Zeitschrift „Erziehungskunst“ 12/1995

Die Schule allgemein – nicht nur die Waldorfschule – ist ein spezielles soziales Feld.  Es ist geprägt von vielerlei Ängsten und Erwartungen, die durch vielfältige Vorerfahrungen bestimmt sind.  Denn jeder Mensch, der als Erwachsener mit einer Schule zu tun hat, war als Kind und Jugendlicher selber auf einer Schule und ist deshalb durch alle möglichen positiven und negativen Vorerfahrungen mit Schule beeinflusst, auch wenn diese meist unbewusst bleiben.  Man kann jedoch davon ausgehen, dass fast alle Menschen in unserem Kulturkreis neben ihren positiven Eindrücken von Schule auch mehr oder minder starke traumatische Erfahrungen mit Schule haben.  Solche Schulerfahrungen werden vor allem vermittelt durch Lehrer.  Insofern liegen bei den meisten Menschen traumatische Erfahrungen mit Lehrern vor.  Diese negativen Erfahrungen mit Lehrern, z. B. ungerecht behandelt worden zu sein, ohne sich dagegen wehren zu können, oder etwa das Gefühl der Machtlosigkeit, des Ausgeliefertseins, der Dominanz des Lehrers, der Abhängigkeit als Schüler, sind aber in den meisten Fällen aus dem Bewusstsein verschwunden, also scheinbar vergessen.  In der Psychologie nennt man diesen Mechanismus Verdrängung.  Dass derartige Dinge nicht völlig vergessen sind, kann man z. B. bei Klassentreffen bemerken, wo das seinerzeit beschädigte Selbstbewusstsein sich in der Regel dadurch wieder aufbaut, dass die ehemaligen Schüler sich gegenseitig mit Freude und oft schier ohne Ende erzählen, wie sie ihre Lehrer geärgert haben.  Man kann dies auch als eine Art von später Rache auf verbaler Ebene ansehen.

Ich möchte hier jetzt nicht weiter in das Feld der Psychologie eindringen, sondern es bei diesen Andeutungen belassen.  Jeder mag sich selbst prüfen, inwieweit in den Untergründen seiner Seele noch schmerzhafte Erlebnisse aus der eigenen Schulzeit schlummern.  Worauf ich damit hinweisen will, mag deutlich geworden sein: Wir sind alle gegenüber der Einrichtung Schule und gegenüber Lehrern auch als erwachsene Menschen nicht ganz unbefangen.  In unseren Seelentiefen schlummern Erlebnisse mit Schule und Lehrern, die – meist unbewusst – unser Verhältnis dazu in starkem Maße beeinflussen können.

Vor diesem Hintergrund wird man das Verhältnis Eltern/Lehrer in der Schule generell, aber auch gerade in der Waldorfschule, mit besonderer Sorgfalt wahrnehmen und gestalten müssen.

Eine besondere Schule weckt besondere Erwartungen

In der Waldorfschule kommt eine weitere Dimension hinzu, die dieses Verhältnis noch zusätzlich erschwert.  Waldorfeltern wie auch Waldorflehrer sind in einer besonderen Situation, da sie sich mit ihrer Schulwahl außerhalb der gewohnten Formen und Normen stellen.  Dies erfordert einerseits Mut, eigene Überzeugung und bewirkt eine Tendenz zur Verteidigung gegenüber anderen, führt aber andererseits auch zu sehr hohen Erwartungen an die andere, die besondere Schule, für die man sich ja bewusst entschieden hat, indem man die Vorteile höher einschätzt als die in Kauf zu nehmenden Nachteile.  Die Eltern haben dadurch hohe Erwartungen an die Lehrer, aber auch an den Organismus Schule als Ganzes im Hinblick auf seine sozialen Qualitäten.  Die Lehrer haben ebenfalls hohe Erwartungen an die anderen Kollegen und die Eltern.  Alle handeln aus Idealismus, wollen es besser machen und setzen damit sich selbst und die anderen unter einen hohen Erwartungsdruck und damit auch unter Erfolgszwang.  Dies ist das Klima, in dem Spannungen und Konflikte hervorragend gedeihen.  Ja, das geradezu prädestiniert ist dafür, dass menschliche und organisatorische Schwächen zu Enttäuschungen sowohl bei Eltern als auch bei Lehrern führen.  Enttäuschungen können wiederum Emotionalisierungen, Gerüchte, Abwehrverhalten, Konflikte bis hin zur Gegnerschaft bewirken.

Das Ganze wird in den Waldorfschulen noch dadurch erschwert, dass es sich hier nicht nur um eine Alternativschule handelt, die alternative Lehr- und Lernformen ausprobiert und anwendet, sondern um eine Schule, die für sich in Anspruch nimmt, auf der Grundlage der Anthroposophie und der Menschenkunde Rudolf Steiners eine an der Entwicklung des einzelnen Kindes und der ganzen Klasse orientierte ganzheitliche Erziehung von Kopf, Herz und Hand zu ermöglichen.  Dies wird verbunden mit der Anforderung an den Lehrer, durch einen persönlichen Schulungsweg neben seiner fachlichen und didaktischen Qualifikation auch seine Fähigkeit zur Menschenliebe, seine moralischen Qualitäten und seine Erkenntnisfähigkeiten ständig zu schulen und so weiterzuentwickeln, dass er zu dieser Art von Erziehung fähig wird.  Denn Erziehung soll in der Waldorfschule zur Erziehungskunst werden, was bedeutet, dass aller Unterricht zum künstlerischen Prozess werden soll, der anregend und heilend, fordernd und fördernd, bei den sehr verschiedenen Schülern die optimale Entwicklung zu einer integrierten Persönlichkeit bewirken soll.  Es ist wohl einsichtig, dass man als Lehrer immer nur auf dem Weg zu diesen Zielen sein kann, aber nie behaupten kann, man habe sie schon erreicht.  Dieser immanente Anspruch führt dazu, dass die Lehrer in der Regel einen sehr hohen Anspruch an sich selbst, an die eigenen Leistungen, an die eigene persönliche Entwicklung haben.  Daraus resultiert häufig das Gefühl, eigentlich nicht gut genug zu sein, den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen.  Dies wird noch dadurch verstärkt, dass man eigentlich in der Erziehung keine kurzfristigen Erfolge erzielen kann.  Gerade Eltern wollen aber oft kurzfristige Erfolge sehen.  In Verbindung mit einer ständigen Selbstreflexion und Selbstkritik des Lehrers kann dies zu einer größeren Empfindlichkeit gegenüber Kritik von außen führen.  Eltern, die diese Zusammenhänge nicht ahnen oder zu wenig kennen, können deshalb diese Empfindlichkeit von Lehrern nicht verstehen.

Diese idealisierten Ziele bewirken weiterhin, dass oftmals gerade Eltern mit Kindern, die besondere Schwierigkeiten haben, die Waldorfpädagogik suchen, was das Verhältnis Eltern/Lehrer, Lehrer/Schüler und Schüler/Eltern zusätzlich belastet, da hier oft geradezu Wunder erwartet werden.  Ich habe es schon einige Male erlebt, dass Eltern, die einst froh waren, dass ihr Kind überhaupt in die Waldorfschule aufgenommen wurde, damit es nicht auf die Sonderschule gehen musste, dies nach einigen Jahren guter Entwicklung ihres Kindes völlig vergessen hatten und enttäuscht waren, dass das Kind nun nicht selbstverständlich auch das Abitur machen konnte.

Lernprozesse und Enttäuschungen – schuld ist der andere

Schule besteht hauptsächlich aus sozialer Interaktion.  Ziel dieser Interaktion ist es, Lernprozesse im einzelnen Kind, bei Jugendlichen oder Erwachsenen anzuregen.  Lernprozesse sind aber immer begleitet von Schmerzerlebnissen bezüglich der eignen Unzulänglichkeit, womit der Eigenwille zur Veränderung durch Lernen angeregt wird.  Die Befriedigung durch den Lernerfolg oder die Freude über die Erkenntnis stellen sich erst danach ein.  Oftmals ist einiges Leiden an sich selbst und an der Sache notwendig, bis ein Lernprozess in Gang kommt.  In der Regel gerät ein mit Begeisterung begonnener Lernprozess in eine Phase der Stagnation, der Krise, die überwunden werden muss.  Auch diese Situation birgt erhebliches Potential für Enttäuschungen und daraus resultierende Konflikte.  Vor allem taucht hier ein beliebter Mechanismus auf, nämlich die Schuld für die eigenen Probleme nach außen zu verlagern und bei anderen Menschen oder Umständen zu suchen.  Dieser Mechanismus zur Lösung eines inneren Konflikt- oder Spannungszustandes ist so weit verbreitet, dass er eigentlich als normal bezeichnet werden muss.  Die Psychologie nennt ihn Projektion.  Die Verlagerung des inneren Konfliktes nach außen bewirkt bei dem Betroffenen erst einmal Erleichterung und entlastet ihn von der eigenen Bearbeitung, da ja die Schuld woanders gefunden wurde.  Nun können Sie auch selber prüfen, inwieweit solche Projektionen in Ihrer Schule vorhanden sind.  Die Schule bietet sich geradezu an für solche Schuldzuweisungen.  Sie können oft hören: »der Lehrer ist schuld« oder »das Kind ist schuld« oder »die Eltern sind schuld«.  Hier sollten Sie sensibilisiert aufhorchen und sich fragen, was solchen Äußerungen wohl wirklich zu Grunde liegt und inwieweit zur eigenen Entlastung die Schuld jeweils beim anderen gesucht wird.  Und es stellt sich die Frage, welche Formen die jeweilige Schule gefunden hat, mit solchen Problemen wie Enttäuschungen, Schuldzuweisungen, Konflikten zwischen Eltern, Lehrern und Schülern in einer fruchtbaren Weise umzugehen.  Es werden Formen des Gespräches sein müssen, die eine Kommunikation auch über subtilere Dinge wie Erwartungen, Ängste und Hemmungen ermöglichen.

Im Zeitalter der Individualisierung

Die bisher beschriebenen Schwierigkeiten werden dadurch verschärft, dass wir als moderne Menschen mitten in einem Prozess der fortschreitenden Individualisierung stehen, der einerseits die positive Auswirkung hat, dass die einzelne Persönlichkeit sich stärker entwickeln und verwirklichen kann, der aber andererseits die negativen Folgewirkungen der stärkeren Selbstbezogenheit, Selbstverwirklichung und Selbstdurchsetzung bis hin zu mangelnder Wahrnehmung der anderen und der ganzen Umwelt mit sich bringt.  Dies wird auch noch durch unsere zivilisatorischen Errungenschaften gefördert, die alle Bequemlichkeiten möglich machen und uns dafür einem ständigen Stress aussetzen, den wir auf uns nehmen, um uns diese Bequemlichkeiten leisten zu können.

Die Waldorfschulen stehen mitten in diesen gesellschaftlichen Entwicklungen und sind diesen Tendenzen sogar noch stärker ausgeliefert als andere Organisationen oder Gemeinschaften, weil wir eine neue Gemeinschaftsbildung versuchen und den Anspruch haben, andere Formen des Zusammenlebens verwirklichen zu wollen.  Wir haben deshalb viele Mechanismen, die andere gesellschaftliche Organisationen haben, um diesen Tendenzen des Egoismus etc. entgegenzuwirken, bei uns abgeschafft, ohne schon entsprechende neue Formen des Umganges damit entwickelt zu haben.  Wir weichen bei der Bildung der Klassenverbände in der Waldorfschule ab von den üblichen gesellschaftlichen Formen, indem wir nämlich die Klassen altersgemäß zusammensetzen und nicht nach Begabung und Leistung und damit auf einen Selektionsmechanismus und die damit verbundenen Sanktionen und Disziplinierungsmöglichkeiten verzichten, die in der staatlichen Schule gegeben sind. Auch in der kollegialen Arbeit versuchen wir, andere Wege zu gehen.  Es gibt keinen Direktor, der – mit Weisungsbefugnis und Sanktionsmöglichkeiten ausgestattet – in der staatlichen Schule ein wichtiges Organisations-, Regelungs- und Führungsorgan ist, sondern wir versuchen, unsere Aufgaben in kollegialer Selbstverwaltung zu erledigen.  Das beginnt bei der gemeinsamen Fortbildung in der Menschenkundearbeit in der Konferenz, bei der Schulung in der gemeinsamen Wahrnehmung und Menschenerkenntnis in den Kinderbesprechungen und setzt sich fort bis hinein in die Verwaltungstätigkeiten der Schule.  Hier versuchen wir, die verschiedenen Verwaltungsaufgaben und Entscheidungen von der Kinderaufnahme bis hin zur Aufnahme neuer Lehrer und Mitarbeiter einerseits in verantwortlichen Delegationen und andererseits in Schulführungskonferenzen zu bearbeiten und zu entscheiden mit dem Anspruch, dies nach Möglichkeit in Einmütigkeit zu beschließen.  Dies alles gibt große Gestaltungsmöglichkeiten und weitgehende individuelle Freiheit und Verantwortung, stellt aber auch sehr hohe Ansprüche an den Einzelnen und die Gemeinschaft.  Vor allem befindet es sich über weite Strecken noch in dem Stadium einer anfänglichen Entwicklung, ohne daß diese Formen schon wirklich beherrscht würden bzw. erfolgreich gehandhabt werden könnten.  Andererseits sind aber die Erwartungen an die Waldorfschule gerade in sozialer Hinsicht sehr hoch.  Dies gibt einen idealen Boden für Missverständnisse, Enttäuschungen und daraus resultierende Konflikte.

Ein Bild von Waldorfschule als Basis für Zusammenarbeit

Für eine Zusammenarbeit als Eltern und Lehrer in der Waldorfschule brauchen wir gemeinsame Bilder und Begriffe.  Schon wenn wir von »Waldorfschule« sprechen, so meinen wir zum Teil ganz Unterschiedliches damit.  Das heißt, wir haben zum Teil ganz unterschiedliche Vorstellungen, die wir mit diesem Begriff verbinden.  Für den einen bedeutet es den Unterricht der Kinder, der andere identifiziert damit das Lehrerkollegium und sieht die Eltern schon außerhalb der Schule usw.  Deshalb möchte ich jetzt ein Bild von Waldorfschule entwickeln, auf das wir uns vielleicht als gemeinsame Grundlage einigen können.  Der Grund, warum wir Waldorfschule Oberhaupt gründen und betreiben und uns all das antun, was damit verbunden ist, auch solche Vorträge wie heute Abend, sind doch unsere Kinder.  Sie stehen im Mittelpunkt des Schulgeschehens – und meiner Zeichnung.  Der Zweck des »Unternehmens« ist, Kindern eine – wie wir immer sagen – kindgerechte und menschengerechte Entwicklung zu ermöglichen.  Dies geschieht in der Schule in einzelnen Klassen, die nach Altersstufen zusammengestellt sind.

Diese Kinder und Klassen werden von einem Klassenlehrer und von Fachlehrern unterrichtet.  Ich zeichne an den äußeren Rand dieser Klassen-Kreise, (es wird an der Tafel gezeichnet) die wie eine Blume aussehen, als Punkte die einzelnen Lehrer, die in diesen Klassen unterrichten; manche Lehrer unterrichten natürlich auch in zwei, drei oder vier Klassen.  Dies umfasst das, was als täglicher Betrieb in der Schule stattfindet.  Diese Lehrer arbeiten nicht nur innerhalb der Klasse zusammen, was sich in Klassenkonferenzen abbildet, sondern auch insgesamt als Kollegium, so dass man sagen kann: Die einzelnen Klassenkonferenzen bilden Organe für die klassenbezogene Arbeit, das Lehrerkollegium ist jedoch ein Organ für die ganze Schule.

Um jede dieser Klassen haben wir eine Elternschaft, die ihre Kinder für einen Teil der Erziehung in diese Schule schickt.  Den weitaus größeren Teil ihrer Zeit verbringen die Kinder und jugendlichen ja außerhalb der Schule zumeist im Elternhaus.  Die Elternhäuser einer Klasse bilden also zum einen eine eigene Gemeinschaft, zum anderen sind sie Teil der Gesamtelternschaft dieser Schule.  Ich zeichne um jede Klasse diesen Kreis von Eltern, die dann gemeinsam die Gesamtelternschaft der Schule sind.  Die Gesamtelternschaft bildet nun zusammen mit den Lehrern den rechtlichen Träger der Schule, in den meisten Fällen in der Form eines Schulvereins, manchmal auch einer Genossenschaft.  Dieser Schulträger hat sich bestimmte Formen und Regeln gegeben und auch bestimmte Organe gebildet zur Erfüllung seiner Aufgaben.  So finden wir hier als Organe den Vorstand, die Mitgliederversammlung, das Kollegium, oft auch Arbeitskreise wie z. B. die Elternbeitragskommission, den Eltern-Lehrer-Kreis, den Baukreis, den Bazarkreis und andere Arbeitsorgane zur Erledigung dessen, was über Unterricht hinausgeht.

Systemgrenze und Umfeld des sozialen Organismus Schule

Außerhalb dieser Gemeinschaft haben wir nun das Umfeld der Schule.  Das besteht zuerst einmal aus den Verwandten und Bekannten der Eltern, also dem familiären Umkreis der einzelnen Elternhäuser, aber auch aus dem lokalen Umkreis der örtlichen Öffentlichkeit, der anderen Schulen und Kindergärten, der Gemeinden, aus denen die verschiedenen Kinder und Elternhäuser stammen, weiter dem Landkreis, der örtlichen und regionalen Presse usw.  Hier um die Elternschaft herum – und vielleicht einige Freunde, die sich noch zu den Trägern der Schule zählen – sehe ich die Systemgrenze, das heißt die Haut des sozialen Organismus Waldorfschule.  Wenn ich im folgenden von Waldorfschule spreche, meine ich damit das, was ich hier gezeichnet habe, diese »Blume«, in die natürlich gegebenenfalls die Kindergartengruppen und Kindergartenelternschaften ebenso mit hinein gehören.  Es ist ja oftmals missverständlich, dass man von Waldorfschule spricht und damit natürlich den Kindergarten implizit einbezogen hat, auch wenn man nicht sagt: »Waldorfkindergarten und Waldorfschule«.  Alles, was außerhalb dieser Grenze ist, ist eigentlich Umfeld.  Alle diese Menschen außerhalb haben keinen Einblick in die tägliche Arbeit, in das tägliche Geschehen an einer Waldorfschule und kennen alles nur aus zweiter oder dritter Hand.

Das Bewusstwerden dieser Systemgrenze ist insofern wichtig, als ich immer wieder erleben kann, dass bei gestörter Kommunikation innerhalb der Schule die Gesprächspartner für die eigenen Sorgen und Kümmernisse außerhalb des eigenen sozialen Organismus Waldorfschule gesucht werden.  Entweder, weil man sie in der Schule nicht findet, nicht zu finden glaubt und in manchen Fällen auch gar nicht finden will – oder weil man sich nicht getraut, die Probleme und möglicherweise auch die Kritik offen auszusprechen.  Andererseits kann das Umfeld um die Schule herum aber zur Lösung der Probleme innerhalb der Schule wenig oder nichts beitragen, sondern wirkt eher als Resonanzboden für die Probleme, die von innen nach außen getragen werden und bildet damit einen negativen Verstärkereffekt von außen in die Schule hinein.  So kommt es, daß das Umfeld einer Schule über deren vermeintliche oder wirkliche Probleme oft besser informiert ist als die Betroffenen selber.  Die positiven Leistungen einer Schule finden weit weniger Verbreitung.  Sie haben vielleicht in Ihrer Schule davon auch schon einige Kostproben zu spüren bekommen.

Stellen wir uns das Bild der Schule noch einmal vor die Seele: Im Mittelpunkt stehen die Kinder.  Um sie dreht sich eigentlich alle Fürsorge, alle Arbeit, und sie sind auch Gegenstand mancher Ängste der Eltern.  Dann haben wir darum herum den Kreis der professionellen Mitarbeiter, die sich existentiell mit diesem Unternehmen verbunden haben (noch ein Stück mehr als die Eltern, die die eigenen Kinder in diese Schule geben), die sich selbst als Lebensaufgabe die Arbeit in dieser Schule gestellt haben und somit auch in ihrer physischen wie psychischen Existenz davon abhängig sind.  Wieder darum herum steht der große Kreis der Schulträger, das sind vor allem die Eltern, die mit der Mitgliedschaft im Verein in eine Rechtsverbindlichkeit eintreten und auch durch ihre laufenden finanziellen Beiträge kundtun, dass sie diese Schule wollen und bereit sind, für die Existenz der Schule einzutreten.  Alle diese Formen und Verfahren haben in einer Schule jedoch auch pädagogische Wirkungen und müssen deshalb besonders auch unter diesem Aspekt gestaltet werden.

Das Wechselspiel zwischen Kindern, Eltern und Lehrern

Wir haben es immer mit drei Partnern zu tun, die in wechselseitigen Verhältnissen stehen: den Kindern, den Eltern und den Lehrern.  Auf diesem Wechselspiel baut sich das ganze Schulleben auf.  Natürlich gibt es auch vielfältige Beziehungen innerhalb jeder dieser Gruppen, also zwischen den Schülern, zwischen den Lehrern und zwischen den Eltern.  Ich gehe wieder von dem wichtigsten Verhältnis aus, dem Verhältnis der Eltern zu ihrem Kind und dem des Lehrers zu dem Kind.  Hier kann man verschiedene Schlüssel für das Verständnis der Beziehungen zwischen Eltern und Lehrern finden.  Die Eltern haben in der Regel eine starke emotionale Bindung an ihr Kind, die von vielfältigen Wünschen, Erwartungen, aber auch Schuldgefühlen und Ängsten geprägt ist.  Die meisten Eltern identifizieren sich stark mit ihrem Kind, so daß sie einen »Angriff« auf ihr Kind als Angriff auf sich selbst erleben.  Eltern, die ihr Kind auf die Waldorfschule schicken, wollen damit das Beste für ihr Kind erreichen.  Insofern sind die Erlebnisse des Kindes in dieser Schule entscheidend für die Stellung der Eltern zu der Schule.  Dazu kommt die weitverbreitete Angst von Eltern, die Liebe ihres Kindes zu verlieren, wenn sie dem Kind unangenehme Dinge zumuten oder dem Willen des Kindes nicht nachgeben.  Das zieht vielfältige Verwöhnungsmechanismen nach sich, die von den Betroffenen aber nicht so erlebt werden.  Häufig werden auch schon kleine Kinder als quasi gleichwertige Partner behandelt – nicht nur in Ein-Eltern-Familien -, was eine Überforderung der Kinder darstellt und ihr Verhältnis zu den Erwachsenen prägt – also auch zu den Lehrern, die aber in der Regel andere Rollenerwartungen haben.  So sind Spannungen und Konflikte fast unvermeidlich.

In vielen Fällen ist aber die Sicht der Eltern auf das Verhältnis ihres Kindes zum Lehrer angstbesetzt und damit nicht unbefangen.  Es können vielerlei Ängste sein, die hier hereinspielen, von der Angst, dass das Kind nicht genügend gefördert, bis zur Angst, dass das Kind ungerecht behandelt wird, bis hin dazu, dass das Kind Schaden leidet in der Klasse oder unter diesem Lehrer.  Die Eltern haben die Hauptwahrnehmung der Schule über ihre Kinder.  Das was das Kind nach Hause bringt, was das Kind erzählt von der Schule und als Urteile, Gefühle und Stimmungen zu Hause äußert, prägt das Bild der Eltern von der Schule, von der Klasse, von dem Lehrer.  Dabei kann natürlich nicht erlebt werden, wo die Äußerungen des eigenen Kindes einseitig, verzerrt sind oder wo sogar Missverständnisse oder falsche Eindrücke vorliegen.  Insofern ist das Bild, das Eltern über ihre Kinder bekommen, zwar einerseits sehr lebendig und oft auch kräftig, andererseits aber auch oft einseitig und zum Teil manchmal auch falsch.

Der Lehrer hat es in seiner Klasse dagegen nicht nur mit dem einzelnen Kind zu tun, sondern mit 30 und mehr verschiedenen Kindern und deren Eltern.  Auch wenn er – wie alle jeweiligen Eltern – von der Einzigartigkeit jedes Kindes ausgeht, so steht diese doch immer in Beziehung zu den anderen Kindern der Klasse.  Daher wird auch die Zuwendung, die Aufmerksamkeit des Lehrers für jedes Kind immer von den anderen beeinflusst sein.  So hat der Lehrer einen anderen Blick auf das einzelne Kind im Vergleich zu der ganzen Klasse, und so werden auch seine pädagogischen Maßnahmen davon geprägt sein, dass er zusätzlich zur Entwicklung des einzelnen Kindes immer auch die Entwicklung aller anderen und der Klasse als Gemeinschaft beachten muss.

Dies zeigt, dass Eltern und Lehrern von unterschiedlichen Standpunkten und Beziehungen zu den Kindern ausgehen.  Hier liegt eine weitere Quelle für Missverständnisse und Fehlinterpretationen.  Es ist deshalb notwendig, dass die Eltern die Sicht des Lehrers kennen- und verstehen lernen, ebenso wie der Lehrer – besonders wenn er selbst keine Kinder hat – die Gefühle von Eltern nachempfinden lernen muss.

Beide – Eltern und Lehrer – müssen lernen, das Kind mit einer menschenkundlich vertieften Erkenntnis zu verstehen, damit sie hinter den wahrnehmbaren Phänomenen die Entwicklungsgesetzmäßigkeiten der sich entfaltenden Individualität erkennen können.

Wir brauchen einen Spiegel unserer sozialen Wirkungen

Hier setzt nun eine soziale Aufgabe ein.  Einerseits müssen die Eltern und Lehrer sich der hier wirkenden Mechanismen bewusst sein, zum anderen sollten sie den Mut und die Offenheit haben, ihre Fragen und Probleme direkt und zeitnah zu besprechen.  Der Hausbesuch des Lehrers bietet hierzu die Möglichkeit, da sich alle Beteiligten in einer anderen Umgebung als in der Schule, nämlich im Reich der Eltern und des Kindes begegnen und sich dadurch neue Dimensionen des Kennenlernens und der Vertrauensbildung ergeben.  Weiterhin ist der Elternabend der Klassengemeinschaft eine ideale Gelegenheit, die individuellen Bilder der Situation und die Einzelurteile darüber ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit zusammenzutragen und daraus ein gemeinsames Bild zu entwickeln, das die notwendigerweise vorhandenen Einseitigkeiten überwinden hilft.  Dies ist für den Lehrer, wenn er es positiv annehmen kann, eine gute Möglichkeit, den Spiegel der eigenen Tätigkeit vorgehalten zu bekommen und daran Selbsterkenntnis und Erkenntnis der eigenen Wirkungen zu üben.

Andererseits bewirkt die Möglichkeit solcher Kritik beim Lehrer häufig offene oder verdeckte Angst, die sich dann vielleicht nur in Ausweichen oder Unbehagen äußert.  Denn im Sozialen gilt ein Grundsatz, der sich auf alle sozialen Beziehungen und gerade auch auf die Unterrichtsbeziehung und das Verhältnis von Lehrer zu Schüler und Eltern anwenden lässt: Es kommt nicht in erster Linie auf die Absichten an, die jemand hat, vielmehr auf die Wirkungen, die er beim anderen erzielt.  Denn das, was im Sozialen dann Realität wird, sind nicht die Absichten des Handelnden, sondern das, was er bei den anderen durch seine Handlungen auslöst.  Man kann sich gar nicht oft genug klarmachen, dass im Sozialen diese Gesetzmäßigkeit wirksam ist.  So erlebe ich oft das Erstaunen von Menschen, die negative Wirkungen in ihrem Umfeld erzielt haben, weil sie überzeugt sind, es doch gut gemeint zu haben.

Diese hier nur skizzenhaft angedeuteten Beispiele weisen uns darauf hin, dass wir vor allem als Lehrer – weil diese durch ihre Rolle unter einem besonderen Erwartungsdruck stehen – aber auch als Eltern – sofern wir gleichberechtigte Partner der Lehrer unserer Kinder sein wollen – uns mit gewissen Grundlagen der Kommunikation, der Psychologie und der Gruppendynamik vertraut machen müssen, um die dort gewonnenen Erkenntnisse auf der Grundlage der anthroposophischen Menschenkunde und in Verbindung mit dem Schulungsweg der Anthroposophie für die Zusammenarbeit in der Waldorfschule fruchtbar werden zu lassen.  Man könnte auch sagen: den gesunden Menschenverstand entwickeln und das Licht des Bewusstseins in die unbewussten Regionen unserer Seelentätigkeiten: Denken, Fühlen und Wollen schicken.  Das führt zu einer vertieften Selbsterkenntnis, die Voraussetzung für eine bewusstere Gestaltung unserer sozialen Beziehungen ist.

Dies ist ein hochinteressantes »Forschungsgebiet«, das uns ständig, in jedem Augenblick unseres wachen Lebens zur Verfügung steht – wenn wir mit uns selbst allein sind und wenn wir mit anderen Menschen zusammen sind.  Für den Lehrer ist es durch seine Wirkung auf die Schüler von besonderer Bedeutung, denn der Lehrer wirkt vor allem durch seine Persönlichkeit auf die Schüler, durch das, was er ist, nicht so sehr durch das, was er sagt.

Je mehr wir uns damit beschäftigen, desto mehr bemerken wir, dass wir für diese Entwicklung unserer Persönlichkeit die anderen Menschen brauchen, vor allem Menschen, die uns offen unsere Wirkung, die wir auf sie ausüben, spiegeln, so dass wir damit die Möglichkeit einer erweiterten Selbsterkenntnis bekommen.

Aufbauende und destruktive Kräfte in uns

Zum Abschluss dieses ersten Teiles der Aspekte zur Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern möchte ich noch auf einen speziellen Gesichtspunkt hinweisen, den uns Rudolf Steiner zum Verständnis der zwischenmenschlichen Beziehungen gibt.  Er spricht davon, dass jeder Mensch in sich sowohl aufbauende Kräfte für eine positive Entwicklung trägt, die dann Ich oder höheres Ich genannt werden, als auch destruktive Kräfte, die eine negative Entwicklung bewirken.  Diese letzten fasst er auch unter dem Begriff »Doppelgänger« zusammen.  Auch die Psychologie kennt diese Dimension des Menschen.  C. G. Jung z. B. nennt sie in seiner Tiefenpsychologie den »Schatten« des Menschen. Jeder von uns hat diese Kräfte in sich und kann auch beobachten, wie sie unser Denken, Fühlen und Wollen in manchen Momenten bestimmen können.  Vor allem im zwischenmenschlichen Bereich werden sie wirksam, etwa dort, wo ein Mensch den anderen (z.  B. ein Kind seine Eltern oder den Lehrer) bis »zur Weißglut« reizen kann, oder auch dort, wo spontane Angst und Abwehr entstehen.  Jeder kann bei sich selbst und anderen vielfältige Beispiele dafür finden.  Das »Böse« in der Welt lebt ja nicht unabhängig vom Menschen, sondern ist in jedem von uns als Möglichkeit, als potentielle Kraft vorhanden.  Es ist u.a. eine Frage der Sozialisation, der eigenen Einstellungen, Wertvorstellungen, des Selbstbewusstseins und der Selbstkontrolle, wieweit dieses »Doppelgängerwesen« in unserem Denken, Fühlen und Wollen zum Tragen kommt, wieweit es uns bestimmt.  Hier kann man beobachten, dass das Doppelgängerwesen des anderen Menschen eben diese Seite bei uns besonders anspricht und ganz spontan – oft ehe wir es richtig bemerken – zum Reagieren bringt.

Eine vertiefte Menschenerkenntnis, die diese Kräfte forschend erkennt, kann helfen, die oben beschriebenen Phänomene nicht nur wahrzunehmen, sondern sich auch den zugrunde liegenden Kräftewirksamkeiten in der Seele des Menschen ahnend, fühlend und erkennend zu nähern.  So können wir die anthroposophische Geisteswissenschaft immer wieder als wertvolle Ergänzung zu den wissenschaftlichen Ergebnissen und als Hilfe für die Selbsterkenntnis und das Verständnis der Welt erleben.

In einem zweiten Teil dieser Ausführungen soll in einem der nächsten Hefte als Ergänzung und Weiterführung auf die Aspekte der Dreigliederung eines sozialen Organismus, insbesondere bezogen auf die Waldorfschule, eingegangen werden.


[1] Überarbeitung eines Vortrages, gehalten in der Freien Waldorfschule Ulm am 25. Januar 1995. Der Vortragsduktus wurde bewusst weitgehend beibehalten.


Zur Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern in der Schule


Bild von Rayna Bauman auf Pixabay

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