Die neuen Kinder
Wie kann man die heutigen (neuen) Kinder besser verstehen?
Meiner Wahrnehmung nach kommen seit den 1980er Jahren (sog. Generation Y) und besonders seit ca. der Jahrtausendwende (sog. Generation Z) immer mehr Kinder mit besonderen Eigenschaften auf die Welt bzw. in den Kindergarten und dann in die Schule. Sie sind selbstständig, eigensinnig, autonom, überwach, hochsensibel, wahrhaftig, widerspenstig, gerechtigkeitsliebend, klug, „respektlos“, mutig, hochbegabt und vieles anderes mehr.
Nach den Ergebnissen der Forschungen über Hochsensibilität, vor allem durch Elaine Aaron, waren in den 1990er Jahren, aus denen ihre Untersuchungen stammen, ca. 15-20% der Menschen in irgendeiner Weise hochsensibel. Das bedeutet, sie nehmen bis zu 40mal mehr wahr und verarbeiten bis zu 5000mal schneller als normalsensible Menschen. Sie werden aber auch häufig als auffällig angesehen.
Diese Auffälligkeiten führen dazu, dass sie als schwierig angesehen werden und Eltern wie auch Erzieher*innen und Lehrer*innen versuchen, dafür Erklärungen zu finden. So werden sie bezüglich dieser Phänomene, die sie „auffällig“ erscheinen lassen, getestet und diagnostiziert. Aus meiner Sicht ist das eine eklatante Fehlentwicklung! Man versucht diese neuen Kinder mit Mustern und Methoden zu diagnostizieren, einzuordnen und zu klassifizieren, die diesen Kindern nicht gerecht werden. Ihre besonderen Begabungen sind in der Regel mit diesen herkömmlichen Begabungs- bzw. Auffälligkeiten- bzw. Defizit-Tests nicht zu erfassen. Deshalb wird man ihnen mit all diesen Tests nicht wirklich gerecht! Man versucht, irgendwelche Erklärungen oder Diagnosen zu bekommen für etwas, was man nicht versteht, um damit eine scheinbare Sicherheit zu bekommen. So gibt es meiner Meinung nach viele Diagnosen von „sozial-emotional gestört“ über ADHS, ADS bis hin zu Autismus, die aufgrund bestimmter Phänomene gestellt werden, die das Kind zwar zeigt – aus meiner Sicht vor allem auch unter Stress-Bedingungen wie diese Tests nun einmal sind – ,die aber nicht das Wesentliche des Kindes erfassen.
Oft treten bestimmte Phänomene erst in der Gruppe auf und werden dann zu Auffälligkeiten, für die man Diagnosen sucht und findet. Aus meiner Sicht wird aber zu oft an den Auffälligkeiten angesetzt und werden nicht die darunter liegenden Ursachen gesehen. Die Phänomene sind sehr vielfältig und können verschiedene Ursachen haben. Es können die Ursachen einzeln oder kombiniert auftreten.
Aus meinen Erfahrungen haben sich 4 Ursachenfelder ergeben, die einzeln auftreten können oder in verschiedenen Kombinationen und alle miteinander in Wechselwirkungen stehen. Die vertikale Achse bezieht sich auf das Innere des Kindes, die horizontale Achse bezieht sich auf von außen kommende Ursachen.
Ich beginne mit den Phänomenen der geistig-seelischen Ursachen:
- Sie fallen einem schon im Kinderwagen auf, wenn sie einen wach und bewusst anschauen. Sie sind von Anfang an viel präsenter als andere Kinder.
- Charakteristisch für die hochsensiblen Kinder ist ihr unbedingtes Wahrheitsgefühl, sodass sie sich gegen jede Unwahrhaftigkeit wehren.
- Sie wirken oft „altklug“, sind aber eigentlich wirklich klug, manchmal auch weise.
- Sie nehmen die Gefühle und die Gedanken der anderen Menschen wahr.
- Sie sind hellfühlig für alles, was in ihrer Umgebung gefühlt und gedacht wird
- Wenn sie das als kleine Kinder bei Erwachsenen wahrnehmen und dann auch benennen, werden sie oft nicht verstanden oder für frech oder unverschämt gehalten.
- Ein anderes Phänomen ist, dass sie sehr autonom sind und genau wissen, was sie wollen und was ihnen gut tut.
- So wollen sie auch selbst ihre Fehler machen dürfen und nicht von den Erwachsenen daran gehindert werden.
- Ein weiteres Merkmal ist, dass man sie nicht zwingen kann! Bei jeglicher Art von Zwang verweigern sie sich entweder aktiv oder passiv. Mit Druck und Strenge kann man bei diesen Kindern nichts erreichen – außer aktiven oder passiven Widerstand.
- viele Kinder leben in einem ständigen Zustand von Stress oder Panik (der von allen Beteiligten als „normal“ angesehen wird) und zeigen dadurch Verhaltensweisen, die vom limbischen System oder Stammhirn aus gesteuert werden und deshalb oft als auffällige Verhaltensweisen erlebt werden.
- u.v.a.m.
Die äußeren Ursachen:
Auf sehr viele Kinder treffen heute die unten näher genannten äußeren Ursachen zu, wobei normalsensible diese sehr viel besser aushalten und verarbeiten können als hochsensible Kinder. Es stellt aber unsere heutige Lebensweise für alle Kinder eine gewisse Grundbelastung dar, die oft unterschätzt, verharmlost (so ist es nun einmal, damit müssen sie doch zurechtkommen) oder sogar negiert wird. Als Beispiele:
- die große Mobilität, sodass die Kinder vom Säuglingsalter an sehr viel in Autos oder im Fahrrad-Anhänger durch die Gegend gefahren werden
- dass die Kinder schon im kleinsten Säuglingsalter große Reisen, Zugfahrten oder Flüge mit allen damit verbundenen Eindrücken über sich ergehen lassen müssen,
- die allgegenwärtige Dauerpräsenz der Medien wie Radio, Fernseher, Video, MP3, Tablets etc.
- die ständige Präsenz von aktiven Smartphones, laufenden Computern etc.
- das ständige Eingebundensein in die Erwachsenenwelt sei es im Café, im Restaurant, im Kaufhaus, im Konzert, auf Festen, Partys etc., auch ganz kleine Kinder werden schon überall hin mitgenommen
- der häufige Wechsel der Bezugspersonen und der Gruppen von der Kinderkrippe an über den Kindergarten bis in die Schule
- das laufende Programm aller möglichen Förderungen und Trainings, wie Babyschwimmen, Frühförderung auf allen möglichen Gebieten mit allen möglichen Programmen etc. u.v.a.m.
- immer weniger Primärerfahrungen und „ungeplante“ Bewegung in der Natur
- immer weniger offenes, freies, unkontrolliertes Spiel mit anderen Kindern
- immer weniger Risiko und selbst erfundene Abenteuer, in denen man sich bewähren muss
Das andere von außen kommende Feld sind die die sozialen Ursachen:
Die sozialen Ursachen sind ebenfalls bei sehr vielen Kindern relevant, wobei hier unterschieden werden muss zwischen
- den Traumata, die ein Kind erlebt hat und durch die es getriggert ist, so dass bei bestimmten Reizen (Triggern) spontane Déjà-vus- oder Flashback-Erlebnisse auftreten und die Kinder panisch reagieren
- den familiären Belastungen, die vielfältiger Art sein können, z.B. kranke Eltern, streitende, sich gegenseitig bekämpfende oder getrennte Eltern, gestresste Eltern, drogenabhängige Eltern, aber auch Einflüsse der Großeltern oder der übrigen Verwandtschaft, Familienschicksale
- insbesondere dem emotionalen und dem Belastungszustand der Eltern, die zum Beispiel durch die Verhaltensweisen des Kindes verunsichert sind oder gestresst oder verzweifelt, weil die ganze Familiensituation ständig chaotisiert wird, oder
- Eltern, die Zwang ausüben bzw. in zwanghafte Verhaltensweisen kommen und dadurch für die Kinder nicht mehr erreichbar sind
- den Auswirkungen der Erziehungsstile! Die neuen Erziehungsstile führen seit etwa 25 Jahren bei den allermeisten Kindern heute dazu, dass Erwachsene nicht mehr als Vorbilder oder Führungspersonen angesehen, akzeptiert und erlebt werden, sondern dass die Kinder gewöhnt sind,
- entweder alles zu verhandeln (partnerschaftliche Erziehung, Eltern als Partner) und somit alles 5-7 Mal gesagt bekommen müssen und erst verhandeln wollen, bevor sie einer Aufforderung Folge leisten. Diese Kinder werden zu Verhandlungsmeistern und können die Erwachsenen dadurch steuern.
- oder gewöhnt sind, dass sie von den Eltern bedient werden (Eltern als Diener ihrer Kinder) und damit zu den Chefs in der Familie werden und selbstverständlich erwarten, dass alle anderen Erwachsenen sie auch bedienen und ihnen in dem folgen, was sie wollen. Sie bestimmen, was gegessen wird, wohin in Urlaub gefahren wird, welches Auto gekauft wird etc.,
- oder, dass sie von den mit ihnen symbiotischen Eltern(-teilen) so abhängig geworden sind, dass sie ohne die Hilfe oder den Beistand der Eltern gar nichts tun können und ständig möglichst in allen Situationen von ihren Eltern begleitet, beschützt oder bewacht werden (wollen). Andererseits erwarten diese Eltern, dass ihre Kinder funktionieren und sich optimieren lassen. Für diese Eltern ist auch nie das eigene Kind schuld, sondern immer die anderen.
Die körperlichen Ursachen
Die körperlichen Ursachen verstärken sich im gleichen Zeitraum, also ab Mitte der 1990er Jahre, auf zum Teil dramatische Weise:
- Insbesondere der Forschung über die frühkindlichen Reflexe verdanken wir die Erkenntnis, dass bei Kaiserschnittgeburten (die in manchen Gegenden von den Ärzten bevorzugt werden), Saugglocken-Geburten, Zangen-Geburten, Sturzgeburten und Geburtskomplikationen in den allermeisten Fällen ein oder mehrere frühkindliche Reflexe nicht in ausreichender Weise aktiviert werden, sodass sie dann im frühen Kindesalter nicht integriert werden können. Damit werden sie zu einem Entwicklungserschwernis für diese Kinder, indem zum Beispiel die Handkoordination oder die Augenkoordination, die Feinmotorik oder Grobmotorik davon betroffen sein können, sie aber auch die Ursache für Angstzustände sein können.
Hierbei spielt der sog. Moro-Reflex eine besondere Rolle. Wenn er nicht ausgereift und/oder nicht ausreichend integriert wurde, kann er z.B. die Ursache für eine Hypersensibilität auf verschiedenen Gebieten, für eine mangelnde Integration anderer frühkindlicher Reflexe sowie für (sonst unerklärliche) Angstzustände sein. Deshalb sollte er vorrangig diagnostiziert und behandelt werden. - In vielen Fällen haben heute die Kinder keine eindeutig dominante Seite mehr, also rechts oder links, sondern überkreuzte Dominanzen, so dass keine Seite wirklich zuverlässig zur Verfügung steht, da wir bei Stress zunehmend die nicht dominante Seite ausschalten und auf die dominante Seite zurückgreifen. Das bedeutet, dass diese Kinder immer eine untergründige Unsicherheit verspüren, die dauernd kompensiert werden muss und damit eine ständige Belastung darstellt. Oft ist damit auch eine links-rechts-Unsicherheit verbunden.
- Bei den Schuleingangsuntersuchungen wird festgestellt, dass die Kinder in der Handhabung und Verfügbarkeit vor allem der unteren und mittleren, aber auch der oberen Sinne zunehmend nicht altersgemäß entwickelt sind.
- Häufig sind Winkelfehlsichtigkeit oder Hörprobleme die nicht erkannten Ursachen für Lese-Rechtschreibschwächen.
- Viele, auch sehr kleine Kinder haben schon Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder sogar Allergien, die sie in ihrer Entwicklung belasten. Eine besondere Rolle spielt hier Phosphat, das in normalem Backpulver, Lezithin, Burgern und vielen Nahrungsmittelzusätzen enthalten ist. Es führt zu einer Funktionseinschränkung der Vorderhirnlappen, mit denen u.a. das Verhalten kontrolliert wird, so dass die von Phosphatempfindlichkeit betroffenen Kinder zu unkontrolliertem Verhalten neigen wie Wutanfälle, Ausraster u.ä. Ebenfalls ist die Wirkung von Zucker zu beachten. Bei zu vielem Zuckergenuss in den verschiedensten Formen werden im Körper zu wenig Ketone gebildet, die für die Ernährung des Gehirns notwendig sind, da direkt zugeführter Zucker die Bildung von Ketonen verhindert und Entzündungszustände im Körper und im Gehirn begünstigt.
Jedes dieser Ursachenfelder für sich reicht schon aus, um normalsensible Kinder in Stress- oder Panikzustände zu bringen, erst recht die Kombination mehrerer Felder.
Wenn jedoch bei hochsensiblen Kindern zu ihrer Hochsensibilität zusätzlich auch noch andere Felder hinzukommen oder sogar alle 4 Ursachenfelder gemeinsam wirksam werden, kommen solche Kinder meiner Erfahrung nach besonders schnell in Überlastungssituationen, in denen sie in Stress- oder in Panikzustände geraten, was sie dann nicht mehr steuern können und nur noch aus Routinen oder Überlebensmechanismen heraus reagieren können. Dann treten Phänomene und Verhaltensweisen auf, die auffällig sind, die aber diesen Zuständen von Überlastung und dadurch bewirkten Stress und Panik geschuldet sind. Insofern sind Hochsensible besonders mit Stress und Panik belastet, was bei manchen zu einem Dauerzustand wird. In vielen Fällen wird an den Symptomen angesetzt und diese therapiert, aber die Hochsensibilität als eigentliche Ursache nicht erkannt. Weiterhin wird oft nicht erkannt, dass die diversen Tests, denen diese Kinder mit besten Absichten unterzogen werden, ebenfalls viel Stress und auch Panik bei ihnen auslösen.
Aus meiner Sicht ist für diese hochsensiblen Kinder dringend nötig,
- dass sie in ihrer Situation wahrgenommen und verstanden werden,
- dass die auffälligen Verhaltensweisen als Hilferufe verstanden werden und nicht als abzustellende Fehlverhalten,
- dass sie in ihrer Besonderheit geliebt werden und genügend Sicherheit bekommen,
- dass sie vor Reizüberflutung, Überladung und Überlastung geschützt werden,
- dass sie ausreichend in der Natur zu sich und in Ruhe kommen können,
- dass ihre großen Begabungen entdeckt, geschätzt und entwickelt werden, auch wenn sie erst einmal gar nicht in das Bild der Erwachsenen passen,
dass sie ihre besonderen Fähigkeiten und Belastungsgrenzen immer besser verstehen und handhaben lernen, und vieles andere mehr
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Bild von florentiabuckingham auf Pixabay