Führung und Selbstverwaltung ein Widerspruch?

Dieser Aufsatz erschien in der Erziehungskunst Heft 1/2-1994

»Führung« ist ein bei uns in vielfacher Weise belasteter Begriff – einerseits durch das Nazi-Regime, andererseits durch die Phase der antiautoritären Erziehung.  Man denkt sofort an den Gegensatz Führer – Geführte.  Mit Führung verbindet man, dass einem ein anderer sagt, was man zu tun hat – also Macht über einen hat und einem seinen Willen aufzwingt.  Das gängige Bild von Führung beinhaltet, dass einer besser Bescheid weiß als die anderen, für andere verantwortlich ist, das Ganze überblickt, die Interessen des ganzen Unternehmens, Betriebes, der Schule etc. vertritt und letztlich an allem schuld ist.  Nach dieser Vorstellung wird in vielfältigen Ausdifferenzierungen überall in unserer Gesellschaft gelebt, angefangen von der Familie bis hin zu großen Industrieunternehmen, wo man dann von „Top-Management“ spricht.  Dabei begegnet man einer deutlichen Hierarchie, sowohl in bezug auf Wissen und Können als auch in bezug auf Macht, Einkommen und Ansehen.  Es wird aber wohl niemand anzweifeln, dass es in jedem Unternehmen eine Unternehmensführung, ein Management geben muss.  Dies gilt auch für Unternehmen im Bildungsbereich wie Schulen oder Hochschulen.

Eine Besonderheit haben wir bei den selbstverwalteten Unternehmen, zu denen auch die Waldorfschulen zählen. Hier trifft man vielfach auf die Meinung, dass es keine Führung geben darf.  Führung wird häufig als Widerspruch zur Selbstverwaltung erlebt.

Nicht selten bieten selbstverwaltete Betriebe und auch Freie Waldorfschulen nach außen ein Bild der Führungslosigkeit.  Die Eltern, aber auch andere Partner, finden oft niemanden, der für ihre Fragen zuständig ist und zur Verantwortung gezogen werden könnte.  Letztlich landet man dann immer bei irgendeinem Gremium oder irgendeiner Konferenz, die oft wochenlang braucht, um sich mit dem Thema überhaupt zu befassen.

Da die internen Führungsstrukturen in so großen selbstverwalteten Betrieben wie einer Waldorfschule mit 50 bis 60 oder 120 bis 130 Mitarbeitern (bei zweizügigen Schulen) nicht mehr transparent sind, werden dann von Außenstehenden, Eltern und auch von Schülern, ja selbst von Mitarbeitern, immer wieder geheime Führungsstrukturen vermutet.  Es entsteht die Frage nach den Drahtziehern im Hintergrund, nach dem heimlichen Direktor, nach der bestimmenden Gruppe in der Schule.

Wenn man den Ansatz der Selbstverwaltung ernsthaft verfolgen will, muss man sich auch der Frage nach der Unternehmensführung stellen; sie bleibt aber in den meisten Waldorfschulen unbewusst oder wird unter dem Negativ-Aspekt der Machtausübung betrachtet.

Allen Freien Waldorfschulen liegt mehr oder minder bewusst als Ideal die selbstverwaltete Lehrer-Republik zugrunde.  Diese Form ist mit den verschiedenen Konferenzen und Delegationen in vielfachen Variationen ausgebaut.’ Strittig sind hierbei immer wieder die Formen der kollegialen Entscheidungsfindung und die Entscheidungskompetenzen von Delegationen oder Mandatsgruppen.  Auf die Diskussion: republikanisch – nicht/oder/auch/und demokratisch, möchte ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen.  Dies ist in den Aufsätzen von Lehrs, Brüll und van Manen in der »Erziehungskunst« mit Literaturangaben ausführlich behandelt worden.[i]

In vielen Gesprächen zu diesem Thema kann man erleben, dass Führung immer personell begriffen wird.  Diese Fixierung auf die personelle Seite, die immer mit dem Aspekt der Machtausübung in Verbindung gebracht wird, macht es sehr schwer, das Thema Führung auf der funktionalen Ebene zu besprechen, d. h. in bezug auf die Aufgaben, die die Funktion »Führung« in einem Unternehmen hat.  Andererseits sind diese beiden Ebenen auch nicht voneinander zu trennen.  Führung hat immer eine funktionale und eine personelle Seite, denn man kann die Führungsaufgaben nicht von den Personen trennen, die sie wahrnehmen.  Andererseits beinhaltet Führung ganz spezielle Aufgaben, die auch ganz bestimmte Qualifikationen voraussetzen.  Insofern ist Führung immer eine Frage der menschlichen, sozialen und fachlichen Fähigkeiten und der bewussten Verankerung als Aufgabe in den Strukturen und Prozessen eines Unternehmens.

Führungsqualitäten

Um die Qualitäten von „Führung“ auch in einem selbstverwalteten Betrieb wie einer Waldorfschule besprechbar zu machen, suchen wir im folgenden einen Zugang von den Qualitäten der Führung her, um sie anschließend an einem konkreten Forschungsfeld zu verdeutlichen.

Ein wesentliches Merkmal von Führung ist der Gesamtüberblick über das Unternehmen.  Weil eine voll ausgebaute Waldorfschule in ihrer Komplexität von vielen nicht ganz überblickt werden kann, will ich nicht diesen Bereich als Forschungsfeld wählen, sondern einen Bereich, den jeder von uns überblicken kann, nämlich den Bereich des einzelnen Menschen, uns selbst.  Es soll also versucht werden, die funktionale Dimension von Führung auf der persönlichen Ebene des einzelnen Menschen zu betrachten. – Mit diesem Ansatz wird bewusst nicht auf die verschiedenen Führungsmodelle eingegangen, wie sie in den Management-Theorien zu finden sind.  Ebenso will ich nicht die verschiedenen Ebenen von Führung besprechen wie z. B. Führungsphilosophie, Führungsstile und -Techniken.  Dies ist z. B. in dem Buch „Dynamische Unternehmensentwicklung“ von Glas und Lievegoed detailliert beschrieben.’ Wird von Führung oder Management im Unternehmensbereich im allgemeinen gesprochen, dann werden damit bestimmte Begriffe verbunden wie z. B.: Leitung, Zielsetzung, Unternehmenspolitik, Planung, Organisation, Kontrolle.

Wenn ich dies nun auf unser gewähltes Forschungsfeld, den einzelnen Menschen, übertrage, muss ich mich fragen: Was bedeutet dies denn in bezug auf die eigene Person, in bezug auf mich als Mensch?  In welchen Lebenssituationen, wo im täglichen Leben erlebe ich, dass ich selbst mich führe?  In welchen Lebenssituationen werde ich von Sachzwängen, von Zeitdruck, von anderen Menschen etc. bestimmt?  In welcher inneren Situation befinde ich mich in dem einen und in dem anderen Fall?  Im differenzierten Betrachten dieser Fragestellungen wollen wir im folgenden den Qualitäten von „Führung“ auf die Spur kommen.

Die Situation, in der man mehr oder weniger unbewusst und weitgehend durch die äußeren Umstände bestimmt handelt, kennt wohl jeder von uns nur zu genau.  Wie viele Situationen im Alltag erleben wir, in denen wir mechanisch, aus Gewohnheit, aus Bequemlichkeit, aus Resignation und anderem reagieren und nicht von uns selbst aus bewusst die Situation gestalten, sie vielleicht auch nicht gestalten können oder wollen?  Andererseits muss auch ein beträchtlicher Teil unseres Lebens mit einer gewissen Routine wie selbstverständlich ablaufen können, damit wir überhaupt handlungsfähig sind.  Das bedeutet aber nicht, dass dies unbewusst geschehen muss.

Wenn wir genauer hinsehen, bemerken wir, dass die Gründe unseres Handelns, die uns – an unserem Bewusstsein vorbei – führen, nicht nur von außen, sondern auch von innen, also aus uns selbst heraus kommen.Wie oft werden wir von einer plötzlichen Gefühlsaufwallung zu einer bestimmten Handlung, Reaktion oder Aussage verleitet?  Wie oft sind wir von einer Stimmung beeinflusst, sei sie schlecht oder euphorisch?  Wie oft lässt uns ein Vorurteil, eine Vorerfahrung, nicht unbefangen auf einen Menschen, auf eine Situation, auf eine Sache zugehen?  Wie oft nehmen wir uns etwas vor, was wir dann nicht durchfuhren?  Wie oft beginnen wir, einen Gedanken zu denken, und landen dann ganz woanders, bzw. wollen wir ein Gespräch über etwas führen, reden aber über alle möglichen anderen Themen?  Wie oft begegnen uns solche Situationen, die wir nicht bewusst gestalten, sondern in die wir irgendwie hineinschlittern, die sich einfach so ergeben? 

Heißt das, dass ich meine Gefühle nicht mehr spontan und unbefangen äußern darf?  Darf ich mich nur noch kühl und sachlich von” Verstand bestimmen lassen?  Verleugne ich mich damit nicht selbst? 

Das ist natürlich nicht gemeint!  Wenn ich aber in ehrlicher Selbsterkenntnis prüfen will, inwieweit ich meine Gedanken, Gefühle und meine Handlungen im täglichen Leben wirklich führe, so muss ich meine Situation ehrlich und ungeschminkt ansehen, um vor mir selbst wahrhaftig zu werden. Das heißt aber noch nicht, dass ich immer und überall diese Führung bewusst ausüben kann und muss. Ich sollte mir jedoch darüber klar werden, ob und inwieweit es diese Qualität der wachen, bewussten Selbst-„Führung“ in meinem täglichen Leben gibt.

Eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass ich bei mir selbst etwas in bezug auf diese Selbst-Führung beobachten kann, ist, dass ich gelernt habe, mich mit meinen Stärken und Schwächen zu akzeptieren, so wie ich bin. Erst dann kann ich erforschen, welche Triebfedern und Motive mich bewegen. Nur wenn ich meine augenblickliche Situation als gegeben hinnehme und mir nicht ein anderes Bild von mir selbst vormache, als das, wie ich in Wirklichkeit bin, werde ich frei erkennen können, was in mir an akzeptierten und auch verdrängten, dunklen Triebfedern und Motiven verborgen liegt. Lerne ich sie bei mir selbst zu beobachten, so kann ich dort auch einige Feinde der Selbsterkenntnis entdecken.  Wenn ich mich jedoch selbst führen will, muss ich mich dieser Auseinandersetzung mit mir selbst stellen.

Betrachte ich mich als eine physische, seelische und geistige Einheit, die sich selbst führen will, dann kann man auch davon sprechen, dass ich mich als Organismus in einem gewissen Sinne selbst »verwalte« und selbst »führe«.  Hat man es mit einem seelisch gesunden Menschen zu tun, so sind die verschiedenen Wesensglieder und Seelentätigkeiten integriert zu einer Gesamt-Persönlichkeit, in der das Ich als der seelische Wesenskern, als die eigentliche Instanz, die verschiedenen Seelentätigkeiten handhaben kann, um in der Welt sinnvoll denkend, fühlend und handelnd tätig zu werden.  Insofern scheint es gerechtfertigt, uns selbst als »selbstgeführten« Organismus bei der Analyse der Führungs-Fragen als Beispiel zu nehmen.

Führungsebenen beim Menschen

Als Mensch werde ich auf drei Ebenen tätig, auf denen ich meine Selbst-Führung beobachten kann-. erstens im Handeln, zweitens im Denken und drittens im Fühlen.  In der Beobachtung dieser drei Tätigkeiten kann ich wesentliche Verschiedenheiten feststellen.

Beobachte ich meine eigenen Handlungen, so kann ich bemerken, dass die meisten meiner Handlungen normalerweise wie von selbst ablaufen, ohne dass ich sie im einzelnen voll bewusst und wach führe. 

Vieles geht wie von selbst, wenn ich z. B. laufe, esse, Fahrrad fahre, schreibe usw.  In mein waches Bewusstsein tritt normalerweise nur das Ergebnis der Handlung.  Aber auch dies ist nur bei besonderer Konzentration und Aufmerksamkeit der Fall.  So kann es mir durchaus passieren, dass ich nicht mehr weiß, ob ich die Haustüre heute morgen wirklich abgeschlossen habe oder nicht, ob ich den Herd ausgeschaltet habe oder nicht … Äußerlich gesehen ist die Handlung oft dieselbe, ob ich sie jetzt vollbewusst-zielgerichtet oder mechanisch-routinemäßig ausführe.  Und doch besteht ein Unterschied.  Die bewusst ausgeführte Handlung erfordert Wachheit und Konzentration auf mein eigenes Tun. Ich bemerke, dass ich mein Bewusstsein selbst von innen ergreifen und gezielt auf meine Handlung hinlenken muss, will ich zur Wachheit im Handeln kommen.

Welche Qualität ist das nun in mir, die diese Bewusstheit, diese Wachheit, diese Ausrichtung und Konzentration des Bewusstseins bewirkt?  Ich kann bemerken, dass ich in besonderem Maße mich aktivieren, sozusagen eine erhöhte Ich-Präsenz entwickeln muss.  Dies erfordert einen erhöhten Willenseinsatz, um den Willen das Denken ergreifen zu lassen.  Ich verliere diese Kraft, diese Möglichkeit, mich selbst zu führen, sobald ich mich »gehen lasse«, wenn ich mich ablenken lasse, wenn ich Verschiedenes gleichzeitig mache oder durch äußere bzw. innere Faktoren ein getrübtes Bewusstsein habe.

Betrachte ich meine Gedanken, so scheint die Wachheit auf den ersten Blick leichter, da wir dort gewöhnlich am bewusstesten sind.  Beobachte ich jedoch mein Denken und meine Gedanken, inwieweit ich sie wirklich willentlich selbst denke und sie mir nicht bloß »einfallen«, so kann ich bemerken, dass die Wachheit in den Gedanken noch nicht eine bewusste Führung derselben gewährleistet.  Auch hier ist eine besondere innere Anstrengung und Schulung nötig.  Wenn ich in mir die Instanz aufsuche, die für diese Anstrengung zuständig ist, gelange ich wieder zu meinem Ich, von dem aus ich willentlich das Denken lenken muss, wenn ich dort die Führung übernehmen will. [ii]

Betrachte ich mein Fühlen, so gelange ich in den zentralen Bereich, von dem aus sowohl mein Denken als auch mein Handeln beeinflusst wird und ich es auch selbst beeinflussen kann. So gilt hier das Ergreifen dieser Region mit dem bewussten Willen zur Führung unter Anleitung des erhellenden Denkens ebenso wie analog für das Handeln und das Denken. Nur befinden wir uns hier nicht in der Auseinandersetzung mit etwas, was wir außerhalb von uns wahrnehmen können, sondern wir gelangen in unser Inneres, wo wir die Eindrücke der Welt in uns fühlend aufnehmen und verarbeiten. Das geschieht oft – und bei Überforderungen, Schocks, Traumatisierungen u.ä. eigentlich fast immer – durch ein Hinabdrängen in die Region des Unbewussten oder Unterbewussten, wo diese Erlebnisse abgelagert werden, damit sie unser tägliches Leben nicht stören.  Beobachte ich diese Seelentätigkeit das Fühlens in mir, dann kann ich bemerken, dass viele Emotionen, Empfindungen und Gefühle mir nur teilweise ins Bewusstsein kommen.  Andererseits können sie aber auch unvermerkt so stark werden, dass sie als Kraft mein Denken oder auch mein Handeln überwältigen, bestimmen bzw. lähmen können.  Hier geht es darum, die eigenen Gefühle sowohl mit wachem Denken zu erkennen und sich bewusst zu machen als auch sie vom Willen her zu ergreifen und zu führen.

Wenn wir uns nun fragen, wie diese Qualitäten der bewussten Führung zu entwickeln und zu schulen sind, so finden wir in den von Rudolf Steiner gegebenen sechs Grund- oder Nebenübungen eine Möglichkeit, durch systematische Schulung in den drei Seelentätigkeiten Denken, Wollen und Fühlen die Führung durch das eigene Ich zu entwickeln.[iii] Weiterhin gibt es in seinem Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?“ eine Fülle von Anregungen und Übungen dafür.[iv]

Wenn ich mich als Persönlichkeit selbstgeführt in meiner Umwelt denkend, fühlend und handelnd betätigen will, so muss ich über diese Wachheit und Bewusstheit in den einzelnen Seelentätigkeiten hinaus eine weitere Qualität entwickeln.  Ich kann nicht bei mir selbst stehen bleiben, sondern muss mich in einen bewussten Bezug zu meiner Umwelt, insbesondere zu meinen eigenen Taten und deren sozialen Wirkungen setzen.  Erst das Bewusstsein für die Gesamtsituation und für mich selbst als Teil dieser Gesamtsituation macht mich zum bewussten sozialen Wesen.  Da ich nicht allein lebe, sondern in vielfältigen sozialen Beziehungen stehe, kann ich erst, wenn ich dieses Gesamtbewusstsein entwickle, davon sprechen, dass ich Herr über mich selbst und Herr meiner Situation bin – also mich selbst führe.

Alle diese Beobachtungen, Wahrnehmungen an mir selbst und an anderen beruhen aber darauf, dass ich meine Sinne so geschult habe und handhaben kann, dass diese Wahrnehmungen überhaupt möglich sind.  Hier mag ein kurzer Hinweis auf die zwölf Sinne genügen[v], mit denen wir alle Wahrnehmungsbereiche erfassen. Durch die geisteswissenschaftliche Forschung Rudolf Steiners ist uns bekannt – was durch verschiedene neuere Forschungen bestätigt wird -, dass der Mensch neben den fünf äußeren Wahrnehmungssinnen (Hör-, Seh-, Geruchs-, Geschmacks-, Tastsinn), denen Steiner noch den Wärmesinn hinzufügt, noch weitere Sinne besitzt. 

Dies sind zur geistigen Seite hin der Wort-Sinn, der Gedanken-Sinn und der Ich-Sinn und zur leiblichen Seite hin der Gleichgewichts-Sinn, der Eigenbewegungs-Sinn und der Lebens-Sinn.  Dies soll im einzelnen hier nicht weiter ausgeführt werden.  Es ist jedoch offensichtlich, dass wir einige dieser Sinne wach-bewusst handhaben können, während wir für andere eine erhöhte Aufmerksamkeit bzw. eine besondere Sinnes-Schulung benötigen, um uns diese speziellen Sinneswahrnehmungen bewusst zu machen.

Dies betrifft zum Beispiel den Lebens-Sinn, mit dem wir unsere eigene Befindlichkeit, unser Lebensgefühl wahrnehmen, also z. B. ob wir gesund oder krank sind.  Unser Ich-Sinn hilft uns z. B., das Wesen einer anderen Persönlichkeit zu erfassen.  Diese beiden Sinne seien hier nur exemplarisch angeführt, um zu zeigen, dass das Bemühen um das bewusste Erfassen der normalerweise unbewusst bleibenden Sinne zu einer wirklichen Selbst-Führung dazugehört.

Dies kann deutlich machen, dass nicht nur eine bewusste Schulung der Seelentätigkeiten, nicht nur das Gesamtbewusstsein für die eigene Persönlichkeit im sozialen Kontext nötig sind, sondern auch eine bewusste Sinnesschulung, um sich als Mensch aller seiner leiblichen und seelischen Instrumente zur Selbst-Führung bedienen zu können.  Diese Sinnes-Schulung kann einerseits durch phänomenologisches Betrachten geübt werden,’[vi] andererseits aber vor allem durch künstlerische Tätigkeiten, durch künstlerisches Üben z.B. im Malen, Musizieren, Plastizieren, der Eurythmie – aber auch im Gespräch als künstlerischem Prozess.  Gerade das künstlerische Tun erfordert eine erhöhte Wahrnehmungstätigkeit, aber auch eine erhöhte Wachheit in allen drei Seelentätigkeiten des Handelns, des Denkens und Fühlens gleichzeitig.

Man könnte dies nun noch weiter differenzieren und fortsetzen.  Ich möchte aber hier den Versuch beenden, die Fragen der Führung in bezug auf mich selbst, auf den einzelnen Menschen zu beschreiben.  Es ist dies ein Forschungsfeld, das einem jederzeit zugänglich ist und unbeschränkt zur Verfügung steht.  Es ermöglicht jedem, die verschiedenen Aktivitäten und Probleme von Führung an sich selbst zu erkunden.

Was heißt das für die Freie Waldorfschule?

Versuchen wir nun, die Erkenntnisse aus der Selbstführung des einzelnen Menschen zu übertragen auf den sozialen Organismus einer Waldorfschule. Wie in bezug auf sich selbst, so ist auch in einem sozialen Organismus die Grundvoraussetzung der Führung die Fähigkeit zur Selbst-Erkenntnis.  Voraussetzung dafür ist das gemeinsame Bemühen um Wahrhaftigkeit und Offenheit im Erkennen der Stärken und Schwächen des sozialen Organismus.  Dies genügt aber nicht, da wir z. B. in Konferenzzusammenhängen auch bestimmte Kenntnisse, Fähigkeiten und soziale Techniken benötigen, um zu einem gemeinsamen Bild und Urteil über den sozialen Organismus zu kommen.  Dabei kann schon deutlich werden, dass ein Mensch, der diese Qualitäten in bezug auf sich selbst nicht entwickeln möchte und sich vielleicht sogar dagegen wehrt, es schwer haben wird, die entsprechenden Qualitäten in bezug auf die Gemeinschaft auszubilden. Wenn wir die Führungsqualitäten in selbstverwalteten sozialen Organismen am Beispiel der Waldorfschule untersuchen, wird das weitgehend erst einmal den Charakter von Fragestellungen haben müssen, an denen jede einzelne Schulgemeinschaft ihre eigene Situation überprüfen kann. jede Schule wird dabei andere Qualitäten und andere Defizite entdecken.

Führungsebenen in der Freien Waldorfschule

Betrachten wir die Ebene der Handlungen im sozialen Organismus Waldorfschule, so können wir ein vielfältiges Tätigsein bemerken, das von den Kindern und Jugendlichen vorwiegend unbewusst ausgeführt wird und von den Lehrern, Erziehern und Eltern eigentlich bewusst geführt sein sollte.  Lässt man die ganze Vielfalt des Schullebens innerlich an sich vorüberziehen, so wird einem deutlich, wie schwierig es ist, innerhalb dieses sozialen Organismus Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie dieser soziale Organismus als Ganzes nach innen und nach außen tätig ist.  Wir können die vielen Einzeltätigkeiten, die einzelnen Handlungen zusammenschauen und zusammendenken zu einer Gesamt-Tätigkeit, zu Handlungen des Gesamtorganismus.  So wie man bei einer einzelnen Persönlichkeit an ihren Handlungen Aufschlüsse über ihren Charakter bekommt, so stellt sich der Charakter einer Waldorfschule aus dem Gesamtbild der Tätigkeiten dar, wozu die einzelne Handlung jeweils eine bestimmte Nuance beiträgt.

Wo findet sich, entsprechend dem Ich des einzelnen Menschen, im sozialen Organismus eine Instanz, die ein Bewusstsein für das Gesamtbild der Handlungen entwickelt, diesen Organismus als Gemeinschaftswesen aktiviert und seine Handlungen führt?  Auch ein sozialer Organismus kann »sich gehen lassen«, kann unbewusst handeln, ein getrübtes Bewusstsein haben etc.

Versuchen wir nun, die Gedankenbildung, das Denken eines sozialen Organismus zu beobachten, so fällt uns dies schon sehr viel schwerer.  Wann denkt eine Freie Waldorfschule?  Gehören alle Gedanken, die von einzelnen Menschen gedacht werden, zur Gedankenbildung dieses sozialen Organismus?  Wann denkt das Sozialgebilde der Freien Waldorfschule durch den einzelnen, in dem einzelnen?  Wann in der Gemeinschaft?  Was kann der einzelne tun, was kann die Gemeinschaft tun, damit das Denken des sozialen Wesens erlebbar und wirksam werden kann?  Was bedeutet es für eine Gemeinschaft, mit dem Willen das Denken zu ergreifen?

Das Bewusstsein für diese Dimension ist in vielen Schulen noch wenig ausgeprägt.  Manchmal entwickeln ein Verwaltungsrat, eine Schulführungskonferenz, ein Vorstand, ein Elternkreis an einer besonderen Frage ein Bewusstsein für die Gedankenbildung des sozialen Organismus Waldorfschule.  Ich konnte dies z. B. nach dem Unfall von Tschernobyl, während des Golfkrieges, aber auch beim plötzlichen Tod eines Schülers, beim Tod einer Lehrerin erleben.  Hier war jeweils der ganze soziale Organismus so betroffen, dass man das Gefühl hatte, er sei aufgewacht und entwickle Verantwortung für die Gedankenbildung in der Schule.  Im normalen Alltag ist davon meist wenig zu erleben.

Betrachten wir das Feld des Fühlens einer Waldorfschule, so kann man ganz ähnliche Fragen für diesen Bereich stellen.  Kommt man als Fremder in eine Gemeinschaft, z. B. in eine Konferenz, so kann man dort bestimmte Stimmungen, Gesamt-Gefühlslagen erleben, die einem deutlich machen, dass es Gefühle eines sozialen Organismus gibt, die über die Gefühle der einzelnen Menschen hinausgehen.  Meist bleiben diese Gefühle für die Gemeinschaft selbst unbewusst.  Manchmal lässt sich eine solche Gefühlslage formulieren, wenn sich eine Stimmung besonders verdichtet.

Wie beim Einzelmenschen zur richtigen Selbst-Führung dazugehört, dass er nicht nur ein Bewusstsein für sich selbst, sondern auch für seine Beziehungen zur Umwelt und die Wirkungen seiner Taten in der Umwelt entwickelt, so gehört auch für eine Waldorfschule als Gesamtorganismus nicht nur die Wachheit in bezug auf sich selbst, also auf die inneren Regungen, Gefühle, die Gedankenbildung und die Taten zur Selbst-Führung, sondern auch das Bewusstsein und die Wachheit dafür, wie dieser Gesamtorganismus im Umfeld steht, wie dessen Taten nach außen wirken und was von außen hereinwirkt.  Wenn es auch in jeder Waldorfschule einzelne Menschen geben wird, die diesen Überblick haben bzw. anstreben, so bedeutet dies noch nicht, dass es damit schon zu einer Qualität der Schulführung wird.  Dies erfordert ein gemeinsames Bewusstsein dafür.

Neben der Schwierigkeit, in einer sozialen Gemeinschaft eine gemeinsame Selbsterkenntnis zu erreichen, was einen besonderen Mut von den einzelnen fordert, die eigenen Wahrnehmungen in der Gemeinschaft zu artikulieren, stellt sich auch für eine Gemeinschaft die Frage, wie die Wahrnehmungsfähigkeiten und die Artikulationsmöglichkeiten der Gemeinschaft geschult werden können. Eine Möglichkeit dafür gibt das gemeinsame künstlerische Üben.  Ein vielfältiges Übungsfeld liegt in der bewussten, sozial-künstlerischen Gestaltung von Gesprächsprozessen.[vii]

Wie kann eine Gemeinschaft lernen, sich selbst bewusst zu führen und zu gestalten?  Eine Möglichkeit besteht z. B. darin, die für die persönliche Schulung genannten Grundübungen auch auf die Gemeinschaft anzuwenden.  Ich habe in verschiedenen Zusammenhängen diese Übungen als sehr hilfreich erlebt, wenn mit ihrer Hilfe eine Gemeinschaft die Qualitäten des Denkens, Fühlens und Wollens bewusster ergriffen hat.

Können alle führen?

Vor dem Hintergrund der oben geschilderten Probleme von Mitarbeitern in selbstverwalteten Einrichtungen mit der Frage der »Führung«, der aus dem Wunsch nach gleicher Beteiligung aller Mitarbeitenden an den Gestaltungsprozessen herrührt, kann man es konkret auf die Frage zuspitzen: Können alle führen? –

Man wird die oben beschriebenen Fähigkeiten der Wahrnehmung sowie der Selbstführung bei den einzelnen Menschen einer Waldorfschule mehr oder weniger ausgeprägt finden.  Wie wird dies aber nun zur Selbst-Führung, zum Gesamtbewusstsein des sozialen Organismus?  Ist es nicht ein Widerspruch in sich selbst, wenn eine selbstverwaltete Einrichtung von einzelnen Menschen geführt wird?  Wie aber kann in der Selbstverwaltung gemeinschaftlich die Qualität von Selbst-Führung entstehen?

Eines scheint deutlich: Wenn die einzelnen Menschen für sich selbst nicht die oben beschriebene Bewusstseinsqualitäten in der Selbst-Führung entwickeln, ist auch eine Übernahme von Führungsaufgaben in einem sozialen Organismus eigentlich nicht möglich. Das würde aber auch bedeuten, dass in einer selbstverwalteten Einrichtung nicht alle Mitarbeiter an der Selbst-Führung der Einrichtung beteiligt sein können, weil sie die dazu notwendigen Fähigkeiten nicht entwickelt haben. Dafür haben sie vielleicht andere wertvolle Fähigkeiten für andere Aufgaben dieses sozialen Organismus.  So ergibt sich aus der Verschiedenheit der menschlichen Qualitäten und Fähigkeiten, dass zumindest in manchen Bereichen ein Teil der Mitarbeiter führt und dadurch andere geführt werden, wobei das je nach Bereich und je nach Fragestellung immer wieder andere Menschen sind bzw. sein können.

So wie in einer selbstverwalteten Einrichtung die horizontale Arbeitsteilung selbstverständlich akzeptiert wird, müsste damit auch einegewisse vertikale Arbeitsteilung akzeptiert werden. Spätestens an dieser Stelle wird es aber in vielen selbstverwalteten Einrichtungen problematisch. Inwieweit ist der einzelne bereit, Analysen, Planungen und Entscheidungen von anderen zu akzeptieren, wenn sie auf einen selbst Auswirkungen haben? Dies scheint sich für viele Menschen mit dem Gedanken der Selbstverwaltung nicht vereinbaren zu lassen. 

Hier liegt ein zentrales Problem der Führung selbstverwalteter Einrichtungen, denn Führung ist immer auf die Akzeptanz der »zu Führenden« angewiesen.  Dies gilt vor allem für selbstverwaltete Einrichtungen, in denen es keine formale Hierarchie und damit keine entsprechenden formalen Strukturen und Sanktionen gibt, um eine Führung auch gegen den Willen der Geführten durchzusetzen (was aber nicht ausschließt, dass es hie und da solche informellen Mechanismen gibt und diese auch sehr wirksam sein können).

Das bedeutet, dass eine Gemeinschaft, die sich besonders an einer Freien Waldorfschule als eine Gemeinschaft von Gleichen versteht, sich bewusst machen muss, dass diese Gleichheit dort richtig ist, wo jeder ein Urteil zu einer Sache haben kann.  Und nur dort ist es richtig, dass alle in gleicher Weise beteiligt sind.  Dies ist vor allem der Bereich der Vereinbarungen über das Zusammenleben und die Zusammenarbeit, also der Rechtsbereich.  Sobald aber spezielle Fähigkeiten notwendig sind, sind wir nicht mehr alle gleich, sondern es ergeben sich deutliche Unterschiede zwischen den Menschen.  Dadurch ergeben sich Fähigkeiten-Hierarchien, die aber heutzutage nur schwer ertragen werden, da der Wunsch nach Gleichheit nicht auf den Rechtsbereich beschränkt bleibt, sondern auch auf den Bereich des Geistigen und des Zusammenarbeitens übertragen wird.  Ich vermute, dass dies auf die Erfahrung zurückgeht, dass vom Raume der Fähigkeiten-Hierarchien aus auch Übergriffe in den Rechtsbereich und in den Freiheitsbereich des einzelnen stattfinden.

Die Führung eines größeren sozialen Organismus verlangt jedoch spezielle Fähigkeiten.  Gelingt es uns, diese Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln und die gegebenen Fähigkeitsunterschiede zwischen zusammenarbeitenden Menschen zu akzeptieren, so schaffen wir damit eine Voraussetzung für die Akzeptanz funktionaler Führung.  Andererseits ist eine wesentliche Voraussetzung einer Führung im sozialen Bereich, dass sie von einer allgemeinen Menschenliebe getragen ist.  Nur wenn in der gemeinsamen Führung die Elemente des Respekts vor der Freiheit der einzelnen Persönlichkeit, der Gleichheit auf der Vereinbarungsebene und der Brüderlichkeit in der Zusammenarbeit leben, kann sie gesund in einer Waldorfschule wirken.

Die innere Haltung der führenden Persönlichkeiten spielt dabei eine ausschlaggebende Rolle. So halte ich die Stärkung der Selbstverantwortung der anderen für eine der zentralen Aufgaben einer modernen Führung. Dies betrifft in der Waldorfschule alle Ebenen vor allem auch den Kernbereich des Unterrichtens, also die Führung der SchülerInnen in der Schule.

Urteilsfindung im Sozialen

Bisher haben wir hauptsächlich die Bedingungen von Führung in selbstverwalteten Einrichtungen zu beschreiben versucht.  Nun wollen wir uns der Qualität und der möglichen Form von Führung in der Selbstverwaltung zuwenden.  Wir haben gesehen, dass es nicht genügt, wenn einzelne Menschen für sich das Gesamtbewusstsein für einen sozialen Organismus entwickeln.  Dies gilt nicht nur deshalb, weil der einzelne zu wenig Möglichkeiten hat, dieses Gesamtbewusstsein auf den ganzen sozialen Organismus zu übertragen, sondern auch deshalb, weil im Sozialen ein Urteil an Qualität gewinnt, wenn mehrere Menschen daran beteiligt sind; denn durch eine Vielzahl verschiedener Standpunkte und individueller Sichtweisen wird sowohl das Bild als auch das Urteil wirklichkeitsgerechter.  Rudolf Steiner geht sogar so weit, zu sagen, dass im Sozialen Einzelurteile immer falsch sind.  Daraus wäre zu schließen, dass dieses Gesamtbewusstsein und Gesamturteil in einer Gruppe gebildet werden müsste, so dass diese Gruppe Führungsqualitäten in bezug auf den sozialen Organismus ausbilden könnte.  Diese Gruppe müsste aus Menschen bestehen, die die oben beschriebenen Qualitäten in bezug auf die eigene Führung und in bezug auf den ganzen sozialen Organismus zu entwickeln bestrebt sind.

Nun wird in der Lebenspraxis diese Gruppe in der Regel nicht nur mit den Führungsfragen beschäftigt sein, sondern auch noch vielfältige andere Aufgaben zu erledigen haben, so dass das Problem auftritt, wie diese Gruppe die Führungsfragen von den anderen Aktivitäten und Beratungen zu unterscheiden lernt.  Im Alltag einer Freien Waldorfschule erlebt man ständig, wie schwierig dies ist.  Meist sind die Menschen, die einen Gesamtüberblick haben und sich in der Verantwortung fühlen, durch die sich aus diesem Gesamtüberblick ergebenden notwendigen Handlungen so beschäftigt, dass für die eigentlichen Führungsfragen wenig Zeit bleibt.

Damit ist ein wichtiges Problem vor allem von selbstverwalteten Einrichtungen angesprochen, nämlich die Überlastung von Entscheidungs- und Initiativträgern.  Wenn wir das bisher Gesagte auf die Waldorfschulen beziehen, so finden wir meistens drei Organe bzw.  Gremien, die im Bereich der Schulführung tätig sein könnten und es auch teilweise sind: Dies sind im pädagogischen Bereich die Schulführungs-Konferenz, im rechtlich-finanziellen Bereich der Vorstand, der vereins- oder genossenschaftsrechtlich auch nach außen Führungsfunktionen innehat, sowie der Elternrat oder Eltern-Lehrer-Kreis, der das soziale Bewusstseinsorgan einer Waldorfschule sein kann. Eine wichtige Funktion erhält unter dem Aspekt der Führung die Zusammenarbeit der schulführenden Gremien: Schulführungskonferenz, Vorstand und Elternrat.  Erst wenn alle drei Gremien gemeinsam an einer kooperativen Führung der Schule arbeiten, kann diese Führung die nötige Akzeptanz in der ganzen Schulgemeinschaft finden.  Sobald Differenzen oder Konflikte zwischen diesen Gremien nicht gelöst werden können, ist die Selbstführungsqualität geschwächt.[viii]

Die Schulführungskonferenzen, früher oft auch »Interne Konferenz« genannt, stehen immer in der Gefahr, dass sie statt »Führung« vor allem »Verwaltung«, also Aus-Führung im Rahmen der Selbstverwaltung der Einrichtung betreiben und dadurch oft nicht bis zu den Fragen der Führung vorstoßen.  Falls dies doch manchmal möglich ist, wird in den meisten Fällen nicht bewusst, dass damit eine ganz andere Bewusstseinsebene angesprochen wird und eine andere Bewusstseinsqualität im Gespräch notwendig ist.  Das bedeutet, dass eine Führungsgruppe in einem sozialen Organismus auch ganz bestimmte Bewusstseinsqualitäten entwickeln muss, ebenso wie ich selbst es tun muss, wenn ich wach und eigenverantwortlich handeln will.  Das gleiche gilt für Vorstand und Elternrat.

Was sind nun die Voraussetzungen dafür, dass z. B. eine Schulführungskonferenz, ein Vorstand, ein Elternrat auch Führungsqualitäten entwickeln kann?

Dazu gehört sicher, dass der Gesamtüberblick über das »Unternehmen«, über den sozialen Organismus, immer wieder gemeinsam entwickelt wird.  Das beinhaltet auch das Bewusstsein für den momentanen Entwicklungsstand sowie die gemeinsame Vorstellung von der weiteren Entwicklung.  Weiterhin muss ein Empfinden für die Gesamt-Befindlichkeit der Schule vorhanden sein.  Das heißt z. B.: Wie fühlen sich die Lehrer?  Sind sie überlastet, kommen sie mit ihrer Aufgabe zurecht?  Fühlen sie sich überfordert?  Fühlen sie sich von den Eltern unter Druck gesetzt?  Stellen sie selbst zu hohe oder zu niedrige Ansprüche an ihre Tätigkeit?  Wie ist die Stimmung im Schulhaus?  Sind die Kinder fröhlich oder bedrückt?  Sind sie frisch oder müde, fröhlich oder aggressiv?  Wie ist der Krankenstand?  Welches Bild von der Schule, von den Lehrern, lebt in der Elternschaft?  Wie ist die Stimmung in der Elternschaft?  Welche Fragen haben die Eltern? … und viele derartige Fragen mehr.

Führungsziele

Für die Führungsgruppen, also die Schulführungskonferenz, den Vorstand und den Elternrat in einer Waldorfschule ist es besonders wichtig, dass diese Gruppen das Bewusstsein von dem gemeinsamen Ziel der Schule wach halten und weiterentwickeln.  Das gemeinsame Ziel sollte so lebendig werden und für alle so deutlich erfassbar, dass es zur Richtschnur, zur Leitlinie für alle Grundsatzentscheidungen werden kann.  Dies sollte auch für alle Mitarbeiter und die Elternschaft erlebbar und nachvollziehbar werden.  Hierbei sind nicht in erster Linie die »operationalen« Ziele, die Ziele im Handlungsbereich gemeint, sondern die geistigen Ziele, die sich mit der Idee der Freien Waldorfschule und der Idee der speziellen Waldorfschule am jeweiligen Ort verbinden.  Man kann an einer solchen Ideen-Arbeit erleben, wie die gemeinsamen geistigen Ziele zu einer Brücke zwischen den Menschen werden, die alle persönlichen Gegensätzlichkeiten und Verschiedenheiten einerseits bestehen lässt und andererseits auf einer höheren Ebene überwinden hilft.  Man kann sogar erleben, dass diese Verschiedenheiten, die im Alltag oft als hinderlich oder störend empfunden werden, von der höheren Warte des Gesamtzieles aus betrachtet, sogar notwendig sind und fruchtbar wirken können, um das Ganze vor zu großen Einseitigkeiten zu bewahren.  Dies lässt einen auch im Alltag die Verschiedenheit des anderen in einem anderen Lichte sehen und erleben. So trägt diese gemeinsame Zielsuche und Zielfindung zu einer weiteren Qualität bei, die Führungsgruppen unbedingt entwickeln müssen, nämlich: Integrationsfähigkeit.  Sie müssen imstande sein, die unterschiedlichen Meinungen, Gefühle, Impulse zu tolerieren, aufzunehmen und in das Ganze so weit wie möglich zu integrieren, ohne dass dadurch das gemeinsame Gesamtziel verloren geht.

Führung in der Selbstverwaltung

Man kann sich fragen, ob die oben geschilderte Selbstführung eines selbstverwalteten Organismus überhaupt möglich ist und wie das gelingen soll, was hier an Anforderungen formuliert worden ist.  Wenn man genauer hinschaut, wird man in jeder Waldorfschule diese oder jene Elemente der Führung mehr oder weniger ausgeprägt und entwickelt finden.  Es ist also nicht so, dass nichts vorhanden wäre.  Es geht m.E. hauptsächlich darum, wie dieses Element der Führung stärker in das gemeinsame Bewusstsein genommen und als Qualität sowohl beim einzelnen als auch in der Gemeinschaft – in den verschiedenen Gremien und Konferenzen – stärker geübt wird, um damit die Fähigkeiten der Selbst-Führung des Gesamtorganismus zu entwickeln und zu verbessern.

Ein notwendiger Schritt dazu ist

  • die individuelle Entwicklung und Schulung jedes einzelnen und
  • eine gemeinsame Arbeit an den geistigen Grundlagen der Waldorfpädagogik,

um in allen Lebenssituationen der Schule, im Konkreten des Alltags durch erweiterte Wahrnehmungsfähigkeiten auch erweiterte Erkenntnisfähigkeiten zu entwickeln.  Diese erweiterten Fähigkeiten können als Qualität, als Bewusstseinsansatz eigentlich bei allen Führungs-Fragen, die eine Lehrerkonferenz, einen Vorstand, einen Elternrat oder eine ganze Schulgemeinschaft bewegen, vorhanden sein.  Aber erst, wenn wir es gemeinsam ins Bewusstsein nehmen und uns alle dazu stellen, jeder auf seine Weise und an seiner Stelle, kann es gelingen, dies auch zur Qualität der ganzen Gemeinschaft werden zu lassen. Bei der Entwicklung dieser Qualitäten verliert »Führung« ihre äußerlichen Dimensionen von Überordnung und Unterordnung, kann vielmehr zur inneren Kraftquelle und Richtschnur, zum Motiv und zur Triebfeder für die Lösung der jeweils anstehenden Fragen werden.

Ein weiterer Schritt wäre, in der Kollegiumsarbeit, in der Arbeit des Vorstandes und des Elternrats das Augenmerk stärker darauf zu richten, in welcher Gesprächs-Qualität gesprochen werden muss, je nachdem ob es sich um eine Führungsfrage oder um eine Aus-Führungsfrage handelt.  Die Führungsfragen erfordern eine erhöhte Wachheit, Bewusstsein des Gesamtorganismus, Präsenz der Ziele und eine Gesprächstechnik, die eine Gemeinschaftsqualität im Gespräch entstehen lässt.[ix]

Wir haben gesehen, dass in selbstverwalteten sozialen Organismen die Frage der Führung besonders sorgfältig betrachtet werden muss, und haben versucht, am Beispiel der Freien Waldorfschule zu konkretisieren, welche Faktoren dabei beachtet werden könnten und sollten. Die Qualität der Führung ist gerade für diese Einrichtungen besonders wichtig, aber auch besonders schwierig zu gestalten. Es kann sich bei aller Notwendigkeit personeller Führungsqualitäten dabei nicht um die alleinige persönliche Führung durch einzelne Menschen handeln, sondern es sind Gruppen verantwortlicher und befähigter Menschen zu bilden, die als Initiativträger das Gesamtbewusstsein entwickeln, die Gesamtverantwortung tragen und sich dieser Qualitäten der Führung in ihren Sitzungen bewusst werden. Ein gewisser qualitativer Sprung ist nötig, damit die gleichen Menschen, die eben noch über die Ausführung einer Aufgabe gesprochen haben, in dem nächsten Konferenzteil bzw.  Sitzungsabschnitt, der Führungsfragen behandelt, sich bewusstseinsmäßig so umstellen, dass die gesamte Gruppe Führungsqualität erhält und Führungsbewusstsein entwickelt. Führung als notwendige Funktion und Qualität eines sozialen Organismus wird damit nicht zur Sache nur von einzelnen, die dann immer als Führer empfunden werden müssen, sondern wird zur gemeinsamen Entwicklungsaufgabe der Menschen, die sich in diese besondere Verantwortung hineinstellen wollen oder von der Gemeinschaft dafür gebeten werden.


Führung und Selbstverwaltung ein Widerspruch


Weiterführende Artikel:


Anmerkungen:

[i] (Vgl. 1 Stefan Leber: Die Sozialgestalt der Waldorfschule, Stuttgart 1991, 2 Lehrs und Brüll in »Erziehungskunst« Heft 1/1988, S. 32 ff., van Manen in Heft 7-8/ 1990, S. 583 ff.  Vgl. auch den Beitrag von Lüdemann-Ravit in diesem Heft, S. 30 ff.3 Friedrich Glasl, Bernard Lievegoed: Dynamische Unternehmensentwicklung, Stuttgart 1993)

[ii] Rudolf Steiner „Philosophie der Freiheit“

[iii] Rudolf Steiner an verschiedenen Stellen u.a. in „Anweisungen für eine esoterische Schulung“

[iv] Vgl.  Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?

[v] Einen ersten Überblick über die zwölf Sinne sind zu finden in  »Erziehungskunst« Heft 10/1991, S. 896 ff. (Bronja Zahlingen: Vom Sinneserleben des Kindes).  Auf einige weniger geläufige Sinne ging Wolfgang Schad in seinem Beitrag über »Sinnesentwicklung und Sozialfähigkeit« in Heft 9/1991, S. 789 ff. ein.

[vi] Beispiele phänomenologischer Betrachtung gibt etwa Ernst-Michael Kranich in seinem Buch »Pflanzen als Bilder der Seelenwelt« (Stuttgart 1993) und seinem Aufsatz »Der Löwe« (»Erziehungskunst« Heft 10/1993, S. 1043 ff.).

[vii] Zum Gesprächsprozeß vgl. in Erziehungskunst Heft Heft 1/2 1994 Andreas Schubert und Karlheinz Flau.

[viii] vgl. und Manfred Leist: „Eltern und Lehrer.  Ihr Zusammenwirken in den sozialen Prozessen der Waldorfschule“, Stuttgart ‘1988.

[ix] Vgl.  Michael Harslem/Andreas Schubert: Die Ausgestaltung der Selbstverwaltung in der Waldorfschule, in: »Erziehungskunst« Heft 3/1988, S. 165 ff.

Bild von Melk Hagelslag auf Pixabay

1 Kommentar

  1. Veröffentlicht von Annäherungen an das Wesen einer Waldorfschule - Michael Harslem am 3. März 2022 um 18:21

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