Waldorflehrer werden – eine Zukunftsvision?

Waldorflehrer werden – eine Zukunftsvision?

Ich beschäftige mich in letzter Zeit intensiver mit den Ergebnissen der neueren Gehirnforschung. Wenn ich Sie jetzt erst einmal mit den Begriffen „Ressourcennutzung“ und „Potentialentfaltung“ konfrontiere, werden Sie sich fragen, was das denn mit der Zukunft des Waldorflehrer-Berufes zu tun hat. Aus meiner Sicht sehr viel! Deshalb lade ich Sie ein, trotzdem weiterzulesen.

In dem Vortrag des Gehirnforschers Prof. Gerald Hüther am 20. Juni 2009 bei dem Kongress “ Schule träumen im Theater“ in Freiburg[i] bin ich das erste Mal auf diese beiden Begriffe „Ressourcennutzung“ und „Potentialentfaltung“ aufmerksam geworden. Dann habe ich sie in verschiedenen seiner Vorträge und Veröffentlichungen ebenfalls gefunden.[ii] Er wendet sie auch auf die Schule und das Lernen an. Dieser Denkansatz hat mich in meiner bisherigen Ausbildungspraxis und in meinen Anliegen für die Zukunft des Waldorflehrerberufes voll bestätigt. Ich danke Gerald Hüther, dass er mir zusätzliche Begriffe an die Hand gegeben hat, meine Anliegen an Lernen und Ausbildung auszudrücken.

Hüther fordert einen Übergang von unserer bisherigen „Ressourcennutzungsgesellschaft“ zu einer künftigen „Potentialentwicklungsgesellschaft“ – und hebt insbesondere die Rolle der Schule für diesen Übergang hervor.

Die Ressourcennutzungsgesellschaft strebte aus seiner Sicht in den vergangenen zwei Jahrhunderten seit der technischen und industriellen Revolution eine optimale Nutzung der Ressoucen an. Sie arbeitet dafür mit Belohnung und Strafe, d.h. mit sog. extrinsischer Motivation, und verfeinert diese Instrumente immer mehr, mit immer größerem Aufwand. Das muss ich hier nicht weiter ausführen. Diese Instrumente sind von der ursprünglichen Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeitskräfte zu immer feineren und raffinierteren Methoden der Verhaltensbeeinflussung und Motivierung fortgeschritten. Ganze Zweige der Psychologie leben davon. Auch in der pädagogischen Diskussion spielen sie eine große Rolle.

Hüther benutzt dafür das Bild des Eselstreibers, der immer neue Anreize bieten muss und immer neue Strafen erfinden muss, um seine Esel in Bewegung zu versetzen. Sobald er nachlässt, erlahmen auch die Esel. Der einzige, der sich wirklich anstrengen muss, ist der Eselstreiber! Dazu muss er auch noch mit den Folgen leben, die der von ihm zitierte türkische Spruch treffend ausdrückt: „Wer den Esel schlägt, muss auch seinen Pfurz ertragen!“

Die Paralelle zu manchen Schul- und Unterrichtssituationen ist jedem von uns offensichtlich. In den Schulen wurden im vergangenen Jahrhundert viele Anreiz-, Konkurrenz- und Bestrafungssysteme entwickelt und immer mehr ausgefeilt, um die Schüler zum Lernen zu veranlassen. Neuerdings findet das zusätzlich auch noch seinen Niederschlag in diversen „Rankings“ wie z.B. den Pisa-Studien, TIMMS u.a. sowie in Lernstandards, G8, Motivationstrainings, immer neuen Lernmethoden incl. E-Learning etc.! Es geht dabei immer um Optimierung des Lernens durch äußere Maßnahmen. Der Lehrer ist nicht nur Wissensvermittler, Korrigierer, Beurteiler, Bestrafer und Belohner, sondern auch „Eselstreiber“, Dompteur, Animateur, Motivator, Show-Master… um nur einige dieser Rollen zu nennen. Andererseits wissen wir als Lehrer auch recht genau, dass Lernen – im Sinne von Entwicklung der Persönlichkeit und zunehmendem Weltverständnis – eigentlich nur aus innerem Antrieb geschehen kann und weder durch Anreize noch durch Druck oder Zwang wirklich nachhaltig bewirkt werden kann.

Dagegen setzt Hüther den Ansatz der Potentialentfaltung. Diese erfolgt bei jedem Menschen nur aus innerem Antrieb heraus, aus sog. intrinsischer Motivation. Sich selbst und die Welt von sich selbst aus, aus eigenem Antrieb zu ergreifen und zu begreifen, ist dem heranwachsenden Kind ein inneres Anliegen! Dieses wird ihm aber durch Elternhaus und Schule zunehmend abgewöhnt, da diese mit Belohnung und Bestrafung arbeiten und das Kind damit konditionieren, mehr auf die von außen kommenden Anreize zu achten und zu reagieren, als auf die eigenen inneren. Eine wirkliche Potentialentfaltung kann aber – schon durch die Funktionsweise unseres Gehirns bedingt – unter Druck oder Zwang oder Stress nicht erfolgen. Sie bedarf der sog. intrinsischen Motivation. Lernen kann man zudem nur, wenn die Bedingungen stimmen, d.h. es mit positiven Gefühlen begleitet ist und in einem angenehmen, bestätigenden Klima stattfindet.

Hüther beschreibt die für Potenzialentfaltung wirksamen und notwendigen Mechanismen so:

  • den anderen zu etwas einladen
  • ihn ermutigen
  • ihn begeistern.

Hüther fordert – wie ich auch – die Lehrer ausdrücklich auf, die Schüler zum Lernen einzuladen – und einladen wird man nur, wen man gern hat -, ihnen Mut zu machen und sie zu begeistern, um damit die individuellen Potentiale der Schüler von innen heraus zur Entfaltung kommen zu lassen. Denn aus Sicht des Gehirnforschers führen die in der Schule bisher wirksamen Mechanismen in der Regel dazu, viele im Gehirn ursprünglich angelegte Potentiale verkümmern zu lassen.

Aus seiner Sicht sind die Gefühle entscheidend für die Einprägung von Erfahrungen in das Gehirn – er spricht sogar von „Einbrennen“ der Erfahrungen ins Gehirn durch die sie begleitenden Gefühle. Hier kommt den negativen Erfahrungen besondere Bedeutung zu, da sie sich als „Schmerzerfahrung“ besonders stark einprägen und unbewusste Vermeidungsstrategien hervorrufen, die sich sehr schnell etablieren. Das bewirkt unbewusste Verhaltensänderungen und kann zu massiven Verhaltensstörungen, Lernstörungen, Lernbarrieren, Lernbehinderungen bis hin zu Lernblockaden führen.

Hüther ruft daher allen Lehrern zu, vor allem auf die Erlebnisse und Erfahrungen der Kinder zu schauen und zu achten, nicht so sehr auf das Wissen, das sich wie nebenbei sowieso einstellt. Falls die Kinder zu wenig primäre Erlebnisse und Erfahrungen haben in der Begegnung mit sich selbst, in der Begegnung mit anderen Menschen und in der Begegnung mit der Welt, verkümmern wesentliche Potentiale, die im kindlichen Gehirn ursprünglich in großer Vielfalt angelegt sind.

Für mich bedeutet das, dass vor allem auch die Lehrer bei sich selbst prüfen müssen, inwieweit bei Ihnen solche Prägungen vorliegen, damit sie diese nicht unbewusst an ihre Schüler weitergeben. Weiterhin müssen aus meiner Sicht die angehenden Lehrer das Lernen aus dem Erleben der Kinder verstehen können und sensibel werden für die Gefühle und Erlebnisse ihrer Schüler beim Lernen – und diese ernst nehmen. Insofern müsste auch dies Teil einer künftigen Lehrerausbildung sein.

Ganz besonders gilt dies für die so genannten „schwierigen“ Kinder und Jugendlichen. Hört man sich in Lehrerzimmern um, so ist die Zahl dieser „schwierigen“ Kinder ständig im Wachsen. Die Gründe dafür sind vielfältig, die Interpretationen auch. Suchen die einen die Schuld beim Lehrer und dem Umfeld inklusive Eltern (z. B. Henning Köhler „schwierige Kinder gibt es nicht!“[iii]), sehen andere große Defizite in der Sozialisation der Kinder (z. B. Michael Winterhoff „warum unsere Kinder Tyrannen werden“[iv] und weitere Veröffentlichungen). Offensichtlich ist, dass immer mehr Störungen und problematische Situationen in Klassenzimmern zwischen Schülern und Lehrern und zwischen den Schülern auftreten, die einen adäquaten Umgang damit notwendig machen – einerseits, um Lernen überhaupt möglich zu machen und andererseits, um dieses spezielle Lernfeld zu bearbeiten. Gerade hierfür ist die Kenntnis des Lehrers von seinen eigenen Wirkungen unerlässlich. Deshalb müsste dies ebenfalls Teil der Lehrerausbildung sein.

Dieses hier beschriebene Verständnis von Lehren und Lernen als Potenzialentfaltung setzt bei Eltern, Lehren und Kindern eine ganz andere innere Einstellung, eine andere Haltung dem Lernen gegenüber voraus als die bisherige, wo es hauptsächlich um Wissensvermittlung/Wissenserwerb und Fähigkeiten/Fertigkeiten geht, die dann letztlich in Noten gemessen werden, die wiederum die Indikatoren für Erfolg oder Misserfolg sind! So haben wir es in der Regel mit einem sehr eingeschränkten Lernbegriff zu tun! Andererseits wissen wir aber, dass Haltungen am schwersten zu verändern sind, da sie sich auf Grund der Erfahrungen über die Gefühle so stark prägend ausgewirkt haben, zum Lebensmuster geworden sind – sich in das Gehirn eingebrannt haben.

Hier kann ich an das Konzept der Waldorfschule anknüpfen, denn hier wurde – aus meiner Sicht sehr bewusst – von Anfang an die Grundlage gelegt für ein altersgemäßes Entfalten der kindlichen Potenziale – im Gegensatz zu dem Drill und der „Ressourcennutzung“ des damaligen Schulsystems. Ein erweitertes und vertieftes Verständnis der kindlichen Entwicklung und vor allem eine daraus abgeleitete kindgemäße Pflege und Kultivierung der kindlichen (und jugendlichen) Gefühlswelt (die so anders ist als bei Erwachsenen) durch die Lehrer und Erzieher als Voraussetzung für die Verbindung des Kindes /des Jugendlichen mit sich, mit den anderen Menschen und mit der Welt waren Rudolf Steiner ein zentrales Anliegen.[v]

Außerdem beschreibt Hüther als die beiden Grunderfahrungen, die das Kind kennt und immer wieder sucht: Geborgenheit und Wachsen. Geborgenheit entsteht durch Gemeinschaft – erst mit der Mutter, dann mit immer mehr verlässlichen(!) Bezugspersonen. Wachsen erlebt das Kind als Erfahrung von Veränderung und von Freiheit ständig individuell bei sich selbst. Durch diese beiden Grunderfahrungen bekommt das Kind seinen Bezug zur Welt und seinen Bezug zu sich selbst. Diese beiden können durchaus in Spannung zueinander geraten.

Neben den Eltern kommt mit zunehmendem Alter des heranwachsenden Kindes noch weiteren Bezugspersonen, so dem Erzieher im Kindergarten und dem Lehrer als zentraler Bezugsperson in der Schule (und dem schulischen Umfeld) eine wichtige Rolle zu. Rudolf Steiner betont immer wieder, dass der Lehrer als Vorbild nicht so sehr durch das wirkt, was er sagt, sondern durch das, was und wie er ist. Das ist ein fundamentaler Paradigmenwechsel im Hinblick auf die Wirksamkeit des Lehrers, der bis heute vielfach nur sehr anfänglich verstanden wird. Denn die Lehrer versuchen meistens, redend auf die Kinder zu wirken – wie heutzutage die meisten Eltern auch.

Jedoch belegt auch die neuere Gehirnforschung, dass die Wirksamkeit des Erwachsenen auf das Kind viel direkter ist, als die meisten vermuten. Das Kind nimmt die inneren Regungen, Gebärden, Muster des Erwachsenen direkt „nachahmend“ ab und integriert sie völlig unbewusst in seine eigenen Muster. Es entsteht eine innere (unbewusste) Resonanz im Kind. Die Neuropsychologie erklärt das mit sog. Spiegelneuronen im Gehirn. Das Kind spürt in sich, z.B. in seinem Lebensgefühl, ob der Erwachsene es annimmt, wie es ist, oder innerlich ablehnt, es mag oder nicht, etc. In jeder menschlichen Begegnung entsteht eine solche Resonanz! Nur haben wir meist noch nicht gelernt, diese Resonanz in uns wahrzunemen und darauf zu achten.

Eine innere Resonanz entsteht aber auch in jeder Begegnung mit der Welt, der Natur – oder auch den Medien! Für die kleineren Kinder, die noch so stark bildsam, beeindruckbar sind, hat diese Resonanz eine noch viel größere Bedeutung als für die Erwachsenen, die bis in ihre Gehirnstrukturen schon viel mehr festgelegt sind. Deshalb ist es so wichtig, dass Kinder ihre Erfahrungen in der direkten Begegnung machen können – und nicht an der Scheinwelt der Medien und Bildschirme, weil dort eigentlich nur vorgespiegelte äußere Phänomene und eine damit verbundene innerliche Leere vom Kind erlebt werden. (Was dann zur Sucht führt, weil auf der Suche nach dem inneren Erlebnis immer mehr davon konsumiert wird, sich aber das innere Erlebnis trotzdem nicht einstellt – gar nicht einstellen kann! Die in den Bildschirm-Medien durch rasche Bildwechsel, erregende Szenen, überwältigende Fülle von Möglichkeiten etc. erzeugte Spannung und Faszination trägt noch weiter zur Suchtausbildung bei.)

So prägen die Begegnungen des Kindes mit dem Erwachsenen (Mutter, Vater, Bezugspersonen, Erzieher, Lehrer…) ganz wesentlich die Erlebnisse, Erfahrungen und Einstellungen, Haltungen des Heranwachsenden. So gilt gerade auch für Lehrer, dass sie den vielen verschiedenen Kindern, die sie unterrichten, ein jeweils authentisches Gegenüber sein müssen, damit sich die Kinder an diesem Vorbild entwickeln können. Falls der Erwachsene sich seiner Sympathien und Antipathien oder seiner Abwehrmechanismen selbst nicht bewusst ist oder sogar bewusst etwas anderes dem Kind gegenüber zum Ausdruck bringen will oder sagt, als er wirklich fühlt und denkt, erlebt das Kind in sich ein (unbewusstes) Diskrepanzerlebnis, das sein Lebensgefühl stört und es dadurch verunsichert. Um diese Unsicherheit in sich zu bekämpfen, entwickelt das Kind (wieder unbewusst) sehr unterschiedliche individuelle Vermeidungs- oder Gegenstrategien, die anfänglich von den Erwachsenen meist noch gar nicht bemerkt und schon gar nicht als solche erkannt werden. Wenn diese Mechanismen dann so manifest werden, dass sie sich im Verhalten dauerhaft etabliert haben, reagieren die Erwachsenen von sich aus mit Abwehr und Gegenstrategien, was die Kinder dann noch mehr verunsichert – und der Teufelskreis ist geschlossen!

Aus dem Wissen um diese Beziehungen und ihre prägenden Wirkungen auf das Kind hat Rudolf Steiner den Waldorflehrern zu Beginn der ersten Waldorfschule bestimmte Leitmotive für ihr Lehrersein gegeben. Die damals 1919 zu Beginn von Rudolf Steiner für die Lehrer gegebenen Motti sind keine Vorschriften oder Anweisungen, sondern beziehen sich auf die innere Haltung des Lehrers als Voraussetzungen für die Entfaltung der individuellen Potentiale der Kinder. Deshalb sind sie aus meiner Sicht heute so aktuell wie damals und können Leitlinien für das Waldorflehrerbild in der Zukunft sein.

Am Ende des ersten Lehrerkurses für die angehenden Waldorf Lehrer in Stuttgart im 14. Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde am 5.9.1919[vi] fordert Steiner die werdenden Waldorf-Lehrer auf, folgende 3 Lehrertugenden zu entwickeln:

  • Durchdringe dich mit Phantasiefähigkeit!
  • Habe den Mut zur Wahrheit!
  • Schärfe Dein Gefühl für seelische Verantwortlichkeit!

Nach dem letzten Lehrplanvortrag am 6.9.1919[vii] fügt er die folgenden 4 Aufforderungen an den Waldorf-Lehrer hinzu:

  • Sei ein Mensch der Initiative im großen und im kleinen Ganzen!
  • Habe Interesse für alles weltliche und menschliche Sein!
  • Schließe keine Kompromisse mit dem Unwahren!
  • Versauere und verdorre nicht!

Nimmt man auch noch methodische Hinweise von Steiner zum Selbstmanagement dazu (wie sie vor allem in dem Buch „wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?“[viii] beschrieben, aber auch in vielen anderen Werken und Vorträgen dargestellt sind) wie z.B. „alles, was Du denkst, durchdringe intensiv mit Deinem Gefühl“ wird damit eine deutlich andere als die herkömmliche Lehrerrolle beschrieben. Es geht Steiner bei seinem Entwurf der Waldorfschule überall um die positiven(!) Erlebnisse und Erfahrungen der Kinder im Entdecken und Erforschen der Welt mit Hilfe des Lehrers – also um Potentialentwicklung, nicht um Ressourcennutzung. Schon Steiner weist immer wieder ausdrücklich auf die Bildsamkeit der kindlichen Seele durch ihre Erlebnisse und Erfahrungen hin und die große Verantwortung, die Eltern und Lehrer für diese Bildung und Prägung der Erlebniswelt und damit der Seele der Kinder tragen.

Nun sind wir aber (fast) alle in einem bestimmten gesellschaftlichen System sozialisiert worden und haben dessen Werte internalisiert, das von Hüther als „Ressourcennutzungsgesellschaft“ beschrieben wird, also nach dem Muster der „Eselstreiber“ funktioniert. So haben sich auch in die bestehenden Waldorfschulen – insbesondere auch durch die Abschluss-Prüfungen und die damit verbundenen Anforderungen und Mechanismen bewirkt – vielfach das Ressourcennutzungsdenken und der Ansatz der extrinsischen Motivation eingeschlichen.

Wollen wir dem entgegenwirken, müssen wir schon in der Ausbildung der künftigen Waldorf-Lehrer darauf achten, welche Paradigmen hier gelehrt – und vor allem gelebt! – werden. Denn wir können davon ausgehen, dass das mentale Modell der extrinsischen Motivation von nahezu allen Menschen in unserer Gesellschaft – also auch den angehenden Waldorf-Lehrern und deren Seminardozenten und Hochschullehrern – verinnerlicht ist. Deshalb bedarf es einer speziellen Bewusstwerdung und auch gezielten seelischen Anstrengung, diese Prägungen zu überwinden und eine neue Haltung zum Lehren und zum Lernen zu entwickeln, die auf ein unbedingtes Vertrauen in die Potenziale und die intrinsische Motivation der Kinder aufbaut.

Ansätze hierfür finden wir in den Bemühungen um eigenverantwortliches Arbeiten, eigenständiges, selbstmotiviertes, selbstverantwortliches u.ä. Lernen, die bisher in die Waldorfschulen erst wenig Eingang gefunden haben. Es gibt allerdings seit einigen Jahren erfolgreiche Praxisforschungsprojekte in verschiedenen Waldorfschulen zu den Bedingungen und Möglichkeiten selbstverantwortlichen Lernens.[ix] Am ausgeprägtesten finden wir diesen Ansatz der Potenzialentfaltung durch selbstgesteuertes Lernen in den so genannten demokratischen Schulen.

Hieraus ergeben sich für mich einige zentrale Fragen an die Waldorfschulen, an die jetzigen und künftigen Waldorflehrerinnen und Waldorflehrer sowie für die jetzige und eine künftige Waldorf-Lehrer-Ausbildung:

  • Inwieweit entsprechen die Freien Waldorfschulen und die Waldorf-Lehrer-Ausbildung dem oben beschriebenen Ansatz der Potenzialentwicklung?
  • Was bedeutet es für die jetzigen und künftigen Waldorflehrer und für die Waldorflehrerausbildung, wenn wir davon ausgehen, dass die Waldorfschule von Anfang an als „Potenzialentwicklungsschule“ konzipiert war?
  • Werden die Waldorfschulen zu diesem ihrem – meiner Meinung nach ursprünglichen – Paradigma zurückfinden?
  • Wie finden sich die Menschen, die diesen inneren Paradigmenwechsel mit allen damit verbundenen inneren Werteumwandlungen wirklich vollziehen wollen?
  • Wie können die BewerberInnen für eine solche Tätigkeit und die dafür notwendige Ausbildung selbst klären, ob sie dafür geeignet sind?  
  • Wie findet die Ausbildungsinstitution heraus, wer diese Voraussetzungen erfüllt?
  • Wie kann es ihnen dann gelingen, sich selbst so zu entwickeln, dass sie so viel Selbsterfahrung entwickeln und so beziehungsfähig werden, dass sie mit so unterschiedlichen Kindern (und deren Eltern) in Resonanz treten und sich innerlich verbinden können?
  • Welchen Weltbezug, welche Weltsicht, welchen Bezug zu sich und zu anderen Menschen müssen angehende Waldorf-Lehrer entwickeln, um den Kindern auf der Grundlage einer positiven Beziehung einen möglichst umfassenden Zugang zu den Phänomenen der Welt, zu sich selbst und zu anderen Menschen zu ermöglichen (d.h. sie nicht mit eigenen unreflektierten Urteilen über sich, die Welt und andere Menschen zu beeinflussen und zu prägen)?
  • Wenn man davon ausgeht, dass unter dem Aspekt der Potenzialentfaltung sich jeder Mensch nur selbst ausbilden kann in einer Lernumgebung, die dies ermöglicht, wie muss dann eine Waldorflehrerausbildung aussehen, in der das immer besser möglich wird?
  • Wie sieht dann der Weg einer solchen Selbstausbildung mit einem jeweils individuellen Curriculum aus?
  • Welches Lern-Verständnis und welche Qualifizierung brauchen die Dozenten und Begleiter einer solchen Selbstausbildung zum Waldorf-Lehrer?
  • Was müssen die Freien Waldorfschulen tun, um wieder stärker zu ihrem ursprünglichen Ansatz der Potenzialentfaltung zurückzufinden?
  • Wie finden die Waldorflehrer, die sich künftig mit dem Anliegen der Potenzialentfaltung selbst ausgebildet und orientiert haben, dann die Waldorfschulen, an denen sie diese Potenzialentwicklung mit Kindern leben können/dürfen?

Ich hoffe, dass wir an diesen Fragen in ein fruchtbares Gespräch über die künftigen Entwicklungen der Waldorf-Lehrer-Ausbildung eintreten können.

Erschienen in: Dirk Randoll, Marcello da Veiga (Hrsg.): Waldorfpädagogik in Praxis und Ausbildung. Zwischen Tradition und notwendigen Reformen, Taschenbuch, 155 S., EUR 34,99, Springer VS Verlag, Wiesbaden 2013


Waldorflehrer werden – eine Zukunftsvision?


[i] Gerald Hüther, Hör-CD „Ohne Gefühl geht gar nichts…“, Auditorium Verlag Müllheim/Baden 2009

[ii] Z.B. Gerald Hüther, Hör-CD „den Übergang meistern – von der Ressourcenausnutzung zur Potenzialentwicklung“ Auditorium Verlag 2009

[iii] Henning Köhler “ Schwierige Kinder gibt es nicht: Plädoyer für eine Umwandlung des pädagogischen Denkens“ Verlag Freies Geistesleben; Auflage: 6. A. (Februar 2007)

[iv] aus meiner Sicht sehr lesenswert und aufschlussreich sind die verschiedenen Bücher von Michael Winterhoff über die Auswirkungen der frühkindlichen sind Sozialisation auf die Kinder zum Beispiel in „warum unsere Kinder Tyrannen werden“ „Tyrannen müssen nicht sein“, „Persönlichkeiten statt Tyrannen“, „lasst Kinder wieder Kinder sein!“ alle im Gütersloher Verlagshaus erschienen

[v] dazu gibt es eine Fülle von Literatur mit jeweils spezifischen Zugängen zum Thema

[vi] Rudolf Steiner „Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik“ GA 293 der Rudolf Steiner Gesamtausgabe

[vii] Rudolf Steiner „Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge“ GA 295

[viii] Rudolf Steiner “ wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ GA 10

[ix] z.B. die Praxisforschungsprojekte zum selbstverantwortlichen Lernen in Freien Waldorfschulen, die durch die Software AG Stiftung gefördert werden, siehe dazu die Website der Akademie für Entwicklungsbegleitung www.entwicklungsbegleitung.net   sowie die Website www.selbstverantwortliches-lernen.de

Foto von Max Fischer von Pexels

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