Konfliktprophylaxe an der Waldorfschule
eine wichtige Aufgabe der Führungsgremien
Eine „heile“ Welt mit vielen Konflikten
Freie Waldorfschulen scheinen – von außen gesehen –oft eine „heile Welt“ zu sein. Umso überraschter sind viele Lehrer[1] und vor allem auch Eltern, wenn sie dann in der Schule durchaus vielfältige Konflikte erleben. Es liegt in der Natur der Sache, dass in Waldorfschulen mehr Konflikte entstehen und bearbeitet werden als anderswo, weil hier die einzelne Individualität sowohl des Schülers als auch des Lehrers und der Eltern stärker zum Tragen kommt, sich zeigen und entwickeln darf, als anderswo. Demgegenüber steht ein starkes Bemühen, Konflikte zu vermeiden, zu bearbeiten und auch zu lösen. [2]
Konflikte sind not-wendig
Konflikte entstehen notwendigerweise dort, wo andere Möglichkeiten der Lösung nicht mehr zur Verfügung stehen oder gesehen werden. Insofern gehören Konflikte zum Leben. Sie bieten immer auch die Chance zur Veränderung, zur Erneuerung. Sie sind oft notwendig, damit etwas losgelassen werden kann, mit dem man stark verbunden ist. Die Möglichkeiten für Konflikte sind so vielfältig wie die Menschen und ihre Beziehungen. Die Frage ist nur, wie mit Konflikten umgegangen wird, ob sie erkannt werden oder ob und wieweit sie die ihnen innewohnende destruktive Dynamik entfalten können. Um sie erkennen zu können, muss die Aufmerksamkeit auf die Entstehung gelenkt werden. [3] Im Anhang habe ich versucht, einen ersten Überblick über mögliche Konfliktfelder zwischen Lehrern an Waldorfschulen aufzuzeigen.
Kalte Konflikte
Weil man Konflikte möglichst vermeiden will – vielleicht aus einemgewissen Harmoniebedürfnis heraus oder weil man sich der Auseinandersetzung nicht gewachsen fühlt – , werden warme oder heiße Konflikte[4] in der Regel möglichst schnell abgekühlt, kalt gemacht – „es geht schon wieder“ – aber nicht gelöst. Dadurch sammeln sich immer mehr untergründige Unverträglichkeiten und negative Stimmungen, die das Klima erst abkühlen lassen, dann jedoch untergründig zunehmend vergiften – oft bei oberflächlicher Freundlichkeit und scheinbarer Harmonie. So können wir auch in den gut laufenden Freien Waldorfschulen eine Menge kalter Konflikte[5] vorfinden, die normalerweise gar nicht bewusst sind!
Letztlich führen kalte Konflikte auf Dauer immer dazu, dass entweder die Lähmung immer größer wird, die Krankenquote steigt und „burn out“ zunimmt – oder dass es an irgendeinem, häufig sogar nebensächlichen Anlass zum heißen Konflikt kommt und die soziale Gemeinschaft dann in den entsprechenden emotionalen Sonderzustand gerät.[6]
informelle Macht
In einem solchen sozialen Feld/Klima, in dem alle gut sein und harmonisch arbeiten und leben wollen, können konfrontative Menschen sehr viel – meist informelle – Macht und Einfluss gewinnen, weil die anderen sich zwar ärgern, aber der Auseinandersetzung aus dem Weg gehen und „beidrehen“. Wenn dieses Spiel einige Male funktioniert hat, setzen sie sich immer wieder durch – oft schon ohne konfrontativ werden zu müssen. Der Ärger der Betroffenen wird unterdrückt und auf dem Parkplatz oder im Lehrerzimmer unter der Hand geäußert. So sammeln sich immer mehr kalte Konflikte an, die das Klima vergiften und die einzelnen lähmen.
Eine andere Situation ergibt sich, wenn eine andere Art von konfrontativen Menschen die Konfrontationen immer mehr steigern, weil sie die Reibung und den Widerstand suchen und brauchen, um sich selbst zu erleben. Hier werden sich zwar auch einige kalte Konflikte ansammeln, es wird aber immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen kommen, die den Konflikt heiß machen. Wie lange solche Situationen in der Gemeinschaft ertragen werden, hängt meiner Erfahrung nach davon ab, wie viel Macht die konfrontativen Menschen haben und wie viel Abhängigkeiten von ihnen bestehen, z.B. weil sie wichtige Ämter innehaben und nicht ersetzbar scheinen.
Zusammenfassend kann ich feststellen, dass
- die Konflikte zwischen Schülern am einfachsten zu bearbeiten und zu lösen sind, (dort haben sich speziell dafür geschulte Schüler-Konfliktlotsen sehr bewährt)
- die Konflikte zwischen Lehrern und Schülern in der Regel ebenfalls gut bearbeitet werden können, wobei es hier immer wieder bedauerliche Ausnahmen gibt, (hier können andere Lehrer, aber auch die Eltern konstruktiv helfend beistehen)
- die Konflikte zwischen Eltern und Lehrern in vielen Fällen aus Sorge um Nachteile für das eigene Kind oder aus Angst leider nicht bearbeitet werden, sondern häufig durch Trennung der Eltern von der Schule gelöst werden, (hier haben sich niedrigschwellige Angebote zur Problembearbeitung wie Beschwerdestellen oder Vertrauenskreise, bei schwierigen Fällen professionelle Konfliktbearbeitung bewährt)
- die Konflikte zwischen Lehrern und Lehrern am schwierigsten zu bearbeiten sind, weil sie häufig kalt sind und teilweise über Jahre oder manchmal Jahrzehnte im Untergrund schwelen, manchmal aber auch sehr heiß und dramatisch werden können und ganze Kollegien oder auch Schulen spalten können. (Hier halte ich eine professionelle Konfliktbearbeitung für unumgänglich)
- jeder Konflikt offenbar nötig ist, weil das Problem nicht anders gelöst werden konnte,
- und damit in jedem Konflikt die Chance zur Veränderung, zur Weiterentwicklung, zum Lernen liegt.
Professionalisierung der Führung von Waldorfschulen – eine Chance für Konfliktprophylaxe
In den letzten Jahren sind viele Waldorfschulen aus unterschiedlichen Gründen an die Grenzen ihrer bisher gehandhabten Selbstverwaltung gestoßen, die meist von dem Prinzip „alle machen alles“ oder „jeder muss in gleicher Weise beteiligt werden“ bzw. „wir führen alle gemeinsam die Schule“ geprägt waren. Die bisherigen Formen waren aus Gründen, die hier nicht weiter untersucht werden sollen, nicht mehr für die Lösung der anstehenden Aufgaben geeignet. So wurde an verschiedenen Schulen die Selbstverwaltung neu überdacht und zumindest teilweise professionalisiert, um den Lehrern mehr Raum für ihre pädagogischen Aufgaben und Prozesse zu schaffen.
Auf dieser Basis müssen mittelfristige und langfristige Zukunftsperspektiven und Ziele entwickelt werden. Im Mittelpunkt muss immer die Liebe zur Sache und zu den Menschen stehen. Führung muss insofern überpersönlich denken und handeln. Die Ziele erfordern aber auch eine Fokussierung und Abgrenzung. Daraus ergeben sich immer Konsequenzen. Auch die Konsequenzen müssen grundsätzlich von Wohlwollen getragen sein, weil sie Entwicklung ermöglichen sollen.
Ist die neue Schulführung und Personalführung eingesetzt, müssen diese Gremien handeln, um die in sie gesetzten Erwartungen nicht zu enttäuschen. Ein sehr wichtiges Feld der Veränderungen besteht darin, bisher eingespielte Muster, Verhaltensweisen und Gewohnheiten zu verändern, damit etwas Neues entstehen kann. Das trifft meist auf wenig Gegenliebe. Jeder Veränderungsprozess in einem sozialen Organismus lässt bestehende Konflikte zum Vorschein kommen oder neue Konflikte entstehen. Deshalb werden in der Regel vorher noch latente, kalte Konfliktsituationen nun offenbar und teilweise virulent.
Im Folgenden möchte ich die möglichen positiven Effekte der neuen Führungsgremien in der Schule im Hinblick auf die Konflikte aufzeigen.
Kultur des Wohlwollens und der Dankbarkeit
Die Führungsgremien können beispielhaft vorangehen, indem sie aufmerksam und wohlwollend wahrnehmen, was in der Schule vor sich geht, und dies in angemessener Weise an die jeweils Beteiligten zurückspiegeln, sodass diese sich wahrgenommen fühlen und Wertschätzung für ihre Arbeit und ihre Leistungen erfahren. Ähnliches gilt für das Bewusstsein dafür, wo jemandem Dank gebührt. So kann von der Führung ausgehend eine Kultur der Dankbarkeit in der Schule Einzug halten (und damit die Kultur der meist geübten abwertenden Kritik ablösen).[7]
Selbstverantwortung stärken, individualisiertes und kooperatives Lernen
Die Schulführung sollte auf allen Ebenen dafür sorgen, dass eine konstruktive Kultur der Auseinandersetzung und Bearbeitung von Konflikten entwickelt wird. Dies beginnt auf der Ebene der Schüler. Meiner Erfahrung nach gibt es von der 1. Klasse an weniger Konflikte unter Schülern – vor allem weniger anhaltende Konflikte – wenn die Schüler von Anfang an im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbstverantwortlich in der Klasse tätig sein dürfen. Gelingt es dem Lehrer, das Lernen der Schüler zu individualisieren und in Verbindung damit kooperative Lernformen anzulegen und einzuüben, entsteht ein Grundgefühl der Selbstwirksamkeit der Schüler und damit so viel Sicherheit, dass sie sich gegenseitig helfen können und Hilfe annehmen können.[8] In solch einem Klima sind Streitigkeiten leichter und wirksamer gemeinsam mit den Schülern zu bearbeiten. Meiner Erfahrung nach gibt es dann sehr viel weniger Konflikte unter den Schülern. (Ein anderes Kapitel ist, dass diese selbstbewussteren sichereren Schüler es dann in der Regel mit autoritären, inkonsequenten und vor allem mit ungerechten Lehrern schwer haben und durchaus bereit sind, Konflikte mit solchen Lehrern auszufechten.)
Klassenrat
Ein bewährtes Organ innerhalb der Klassen ist – von den unteren Klassen an – der wöchentliche „Klassenrat“, in dem alle Vorfälle in der Klasse in wohlwollender Atmosphäre besprochen, Probleme gelöst und Streit geschlichtet werden können. Hier lernen die Kinder, dass Fragen, Probleme und Streitigkeiten sachlich vorgebracht und besprochen werden und gemeinsam Lösungen gefunden werden können. Meiner Erfahrung nach kann man von der 1. Klasse an diese Kultur des gemeinsamen Klassenrates/der Schülerkonferenz anlegen, wobei etwa ab der 4. Klasse durchaus schon Schüler mithilfe des Lehrers die Moderation der Klassenkonferenz übernehmen können. In der Oberstufe können die sog. Betreuerstunden dann völlig in Schülerhand gegeben werden, die diese in der Regel sehr gut organisieren und moderieren können.
Streitschlichter unter den Schülern, Konfliktlotsen
Aus meiner Sicht hat es sich in vielen Schulen sehr bewährt, wenn sich Schüler zu Konfliktlotsen bzw. Streitschlichtern ausbilden und diese Funktion innerhalb der Schülerschaft wahrnehmen. Es muss dieses Konzept durch ein bis 2 Lehrer und auch durch Elternvertreter positiv begleitet werden, damit es in der Schule Fuß fassen kann. Es ist Aufgabe der Schulführung, durch einen transparenten Willensbildungsprozess in der ganzen Schulgemeinschaft dafür zu sorgen, dass dieser Ansatz eine breite Basis in der Elternschaft und Lehrerschaft findet. Die Schule sollte die Finanzierung dieser Ausbildung und Freistellung der Schüler dafür übernehmen.
Vertrauenseltern
In der Elternschaft hat sich bewährt, auf Klassenebene Vertrauenseltern zu wählen – eine Funktion, die auch die Elternvertreter der Klasse wahrnehmen können –, die bei auftretenden Problemen anhörend und vermittelnd tätig werden können. Sie können bestimmte Probleme, die die ganze Klassengemeinschaft angehen, dann auch auf den Elternabenden thematisieren und zur Lösung bringen.[9]
Streitschlichter unter den Eltern, Konfliktlotsen
Ähnlich wie bei den Schülern haben sich Streitschlichter oder Konfliktlotsen auch bei den Eltern bewährt. Wenn sich aus jeder Klasse ein bis 2 Eltern in eine entsprechende Fortbildung begeben, wirkt sich das auf das Gesprächsklima in den Klassen und damit in der ganzen Schule sehr schnell positiv aus. Sobald in einer Klassenelternschaft das Bewusstsein auf die Gesprächskultur gelenkt wird und Wächter dafür da sind, macht sich das in einem besseren Umgang miteinander bemerkbar. Auch hier ist es Aufgabe der Schulführung, in Zusammenarbeit mit der Elternvertretung dafür zu sorgen, dass dieses Konzept in der Lehrerschaft und in der Elternschaft eine breite Akzeptanz und Tragfähigkeit findet. Auch hier sollte die Schule die Finanzierung dieser Fortbildungen übernehmen.
Beschwerdemanagement
Eine Schulführung ist dafür verantwortlich, dass der Schulbetrieb möglichst gut läuft. Insofern sind alle Sorgen und Fragen in dieser Richtung wie zum Beispiel Unterrichtsausfall, Aufsichtsprobleme, Disziplinprobleme etc. dorthin zu richten. Wenn die Schulführung dann einen transparenten Prozess gestaltet, in dem diese Fragen bzw. Probleme bearbeitet werden, in den die Betroffenen einbezogen sind, kann dies ein wesentlicher Beitrag zur Konfliktprophylaxe sein. Heute würde man das als Beschwerdemanagement bezeichnen. Wenn die Schulführung einen Überblick über die anliegenden Fragen und Probleme bekommen hat, kann sie auch eine Delegation aus 2 oder 3 geeigneten Persönlichkeiten aus der Elternschaft und der Lehrerschaft bilden, die mit dem Beschwerdemanagement beauftragt wird. Damit kann so etwas wie eine „Ombuds-Stelle“ geschaffen werden.
Es sollte in jeder Schule ein bis 3 Menschen in der Rolle des Ansprechpartners für Fragen, Sorgen, Probleme und Kritik geben. Ob das „Kummerkasten“, „Beschwerdestelle“, „offenes Ohr“ oder „Erleichterungsstelle“ genannt wird, es muss in jeder Schule ein passender Name dafür gefunden werden. Viele Konflikte entstehen meiner Erfahrung nach dadurch, dass Fragen und Sorgen nicht an einer Stelle geäußert werden können, die diese ernst nimmt und gegebenenfalls Maßnahmen zur Behebung in Gang setzen kann. So staut sich manche Sorge auf, wird zu Kritik und verhärtet sich immer mehr. Letztlich führt es dann oft von der sachlichen Ebene weg zu einer Projektion auf die Person, die man für die kritisierten Dinge für verantwortlich hält.
Konfliktbearbeitungsstelle, professionalisierter Konfliktkreis
Konflikte sind dazu angetan, die Führungsgremien einer Schule sehr stark zu beschäftigen – zum Teil beanspruchen sie bis zu 90 % von deren Arbeit. Jede Konfliktpartei versucht, sie als „Machtinstanz“ auf ihre Seite zu ziehen. Wollen sie neutral bleiben, ergibt sich daraus eine ganze Reihe von Gesprächen mit jeder der beiden Parteien und beiden gemeinsam.
Einerseits sollten die Führungsgremien nicht von Konflikten anderer absorbiert werden, sie sollten aber auch nicht selbst in die Bearbeitung der Konflikte eingreifen, da sie sowohl eine neutrale (Macht)Position behalten müssen, als auch deshalb, weil sie selbst Gegenstand von Konflikten sein können.
So sollte bei Einrichtung solcher neuen Führungsgremien zum Schutze von deren Arbeit unbedingt gleichzeitig auch ein kompetenter, professionell besetzter „Konfliktkreis“ eingerichtet werden, der für die Bearbeitung der Konflikte in der Schule zuständig ist. Dorthin können dann alle Konflikte gegeben werden, sodass sich die Führungsgremien nicht mehr selbst damit befassen müssen.
Aus meiner Sicht ist das ein notwendiges, unterstützendes Organ der Schule, das unbedingt nur mit Menschen besetzt werden sollte, die in Mediation oder Konfliktbearbeitung ausgebildet, geschult sind und Erfahrungen haben. (Gutwillige Laienhelfer können in der Begleitung von Konflikten bei allem guten Willen mehr kaputt machen, als sie helfen können.) Diese sind heutzutage im Elternkreis einer Waldorfschule meistens zu finden. Ich kenne einige Beispiele, bei denen sich das sehr gut bewährt hat. Die Einrichtung eines solchen Konfliktkreises ist wiederum mit allen Beteiligten so durchzuführen, dass der Prozess transparent ist und die dabei vereinbarten Spielregeln von möglichst vielen mitgetragen werden können. Der Organismus muss das neue Organ annehmen und nutzen wollen.
Zusammenarbeit der Schulführung mit der Elternvertretung
Die gewählten Elternvertreter der Klassen bzw. die Vertrauenseltern der Klassen können eine wichtige Rolle im Schulganzen übernehmen, indem sie die Fragen und Probleme aus den Klassen zusammentragen und zusammenschauen können. Das ist ein wichtiges Frühwarnsystem für übergreifende Fragen und Probleme in der Schule. Insofern sollte die Schulführung mit dem Leitungskreis der Elternvertretung regelmäßig – spätestens alle 4 Wochen – zusammenkommen, um über die Stimmungen und die Fragestellungen der Eltern in der Schule zu sprechen. Daraus können dann verschiedene miteinander abgestimmte Aktionen abgeleitet werden. So können manche Unzufriedenheiten, die zu Konflikten führen können, schon im frühen Stadium bearbeitet werden.
Verlässliche, transparente Verfahren unter Beteiligung der Betroffenen
Überhaupt ist eine klare, transparente Führung von Verfahren und Prozessen mit Beteiligung aller Betroffenen in der Schule aus meiner Sicht eine sehr gute Konflikt-Prophylaxe. Durch die transparent gestalteten Verfahren ist die laufende Teilhabe der Betroffenen sichergestellt, vor allem aber sollten auch die Kritiker und Gegner von Anfang an einbezogen werden, damit ihre Argumente gehört und eingebunden werden. Durch die Veröffentlichung des Verfahrens-Fahrplans entsteht Verlässlichkeit und Vertrauen. Alle Betroffenen wissen, wann und wie sie beteiligt werden. Ihre Teilhabe an dem Prozess ist gesichert. Sie werden nicht vor vollendete Tatsachen gestellt, sondern sind am Zustandekommen der Meinungsbildung und Entscheidungen beteiligt. Dies sind die besten Voraussetzungen dafür, dass auch bei strittigen Themen ein kontroverser Diskurs auf der sachlichen Ebene geführt werden kann – und nicht in persönliche Angriffe abrutscht, wodurch es zum Konflikt werden könnte.
Verbindlichkeiten und Konsequenzen
Eine weitere Ebene, auf der die Führungsgremien Konfliktprophylaxe betreiben können, ist der Bereich der Verbindlichkeiten und Konsequenzen. Wenn klare, mit allen Beteiligten erarbeitete Verfahren und Spielregeln bestehen, auf die die Führung bauen und auf deren Einhaltung sie bestehen kann, können bei Verstößen oder Fehlverhalten auch adäquate Konsequenzen angewendet und durchgesetzt werden. Dann können die in vielen Freien Waldorfschulen durch den jahrelang praktizierten Laissez-Faire Stil mit informeller Führung entstandene soziale Unordnung, die dadurch bewirkten sozialen Ungleichgewichte, die empfundenen Ungerechtigkeiten, die Beliebigkeiten und Unverbindlichkeiten Schritt für Schritt abgebaut und geheilt werden. Dann kann in bewusst gestalteten gemeinsamen Prozessen wieder eine neue Gemeinsamkeit und Identifikation mit dem gemeinsamen Ziel entwickelt werden.
Klare Personalführung mit Konsequenzen
Eine besondere Ebene der Konfliktprophylaxe ist die bewusst gestaltete Personalführung. Indem jede Lehrer-Individualität in ihrer spezifischen Ausprägung, mit ihren besonderen Verhaltensweisen, Stärken und Schwächen ernst genommen wird und dies in einem mindestens jährlich stattfindenden Entwicklungsgespräch im geschützten Rahmen wohlwollend thematisiert werden kann, kann – nicht sofort – aber im Laufe der Jahre eine Vertrauensbasis und eine Einsicht in die besondere Biografie jedes Lehrers entstehen, die eine individuelle Bearbeitung der jeweils eigenen Lernfelder erschließen und ermöglichen kann. Diese Lernfelder sollten sich an den klar formulierten Bedürfnissen vor allem der Schüler, aber auch der Schule orientieren, die den Anlass bzw. den Grund für die individuellen Lernfelder des Lehrers/Mitarbeiters im Berufsfeld, aber auch auf persönlicher Ebene geben.
Besondere Situationen bedürfen besonderer Bearbeitung
Eine besondere Situation ergibt sich bei Lehrern, Eltern und Schülern, die Wahrnehmungsprobleme (mangelnde Eigen- und Fremdwahrnehmung), Beziehungsschwierigkeiten (zu große Nähe oder zu große Distanz oder sogar Abwehr), soziale (Soziopathen) oder psychische (Psychopathen) Probleme haben. Für den Umgang mit solchen Sondersituationen müssen sowohl die Schulführung als auch die Personalführung sich speziell schulen, da diese Fälle erhebliche Brisanz bergen und meist mit starken Emotionalisierungen einhergehen. Häufig spaltet sich das Umfeld in vehemente Gegner und ebenso vehemente Beschützer. Da die Wirkungen der Lehrer auf Schüler auf vielen Ebenen sehr prägend sind, muss hier immer das Wohl der Schüler über der Sorge für den Mitarbeiter stehen. Hier muss eine konsequente Personalführung schon bei der Früherkennung ansetzen und rechtzeitig die geeigneten Schritte ergreifen, bevor der „Kranke“ sein Umfeld schon auf seine „Krankheit“ hin funktionalisiert und coabhängig gemacht hat. Das gleiche gilt für einzelne Eltern und auch Schüler, die aus den gleichen Gründen in die soziale Gemeinschaft nicht integrierbar sind oder sich nicht integrieren wollen. Vielfach lassen sich die damit verbundenen Probleme und Konflikte nur durch schnelle und rechtzeitige Trennung lösen, da die damit verbundenen Konflikte wegen der speziellen Persönlichkeitsstrukturen in der Regel nicht bearbeitbar sind. Es empfiehlt sich auch, sich von geeigneten Spezialisten wie Psychologen, Psychiatern beraten zu lassen.
Zukunftssicherung
Führung hat auch immer mit Gesamtbewusstsein, Kenntnis der verschiedenen zur Verfügung stehenden Fähigkeiten, Berücksichtigung der von außen gegebenen Bedingungen zu tun. So kommt der Personalführung die Aufgabe zu, mittels einer mittel-bis langfristigen Personalplanung (über 10, besser 15 Jahre) und einer entsprechend ausgerichteten Lehrersuche, Lehrergewinnung und Einarbeitung für die künftige Qualität der Schule auf allen Ebenen zu sorgen. Je besser diese Aufgabe gelingt, je klarer die Anforderungen an die neuen Lehrer formuliert werden können und je besser und intensiver die Einarbeitung erfolgt, desto eher können durch Lehrer bewirkte Konflikte vermieden werden.
Bewusstsein für das gesamte Feld der Schule
Da mit den Lehrern immer Schüler und damit auch Eltern zusammenhängen, lassen sich innerkollegiale Konflikte zwischen Lehrern meist nicht auf die Beteiligten begrenzen. So kommt es meist zu einer Ausweitung der Arena auf diese nicht direkt daran Beteiligten, die damit aber zu Betroffenen werden und so in den Konflikt hineingezogen werden. Viele (oft latente) Ängste werden dadurch mobilisiert und führen zu einer wachsenden Emotionalisierung und raschen Polarisierung des ganzen sozialen Feldes.
Bei Konflikten zwischen Schülern erleben wir von Seiten der Eltern häufig eine blitzschnelle Ausweitung der Arena mittels Emails oder Whats App auf die ganze Klassengemeinschaft und darüber hinaus auf die Schulgemeinschaft oder noch weiter, was den Konflikt sehr schnell eskalieren lässt. Hier gilt es, durch Anlegen einer Kultur des bewussten Umgangs mit Kritik, Problemen und deren transparente, nachvollziehbare Bearbeitung ein soziales Klima zu schaffen, das nicht von Misstrauen, sondern von Vertrauen in die Problemlösungskapazitäten der Gemeinschaft und ihrer Organe geprägt ist.
Resümee
Die Waldorfschule bietet sehr gute Möglichkeiten für die Entwicklung einer konstruktiven Auseinandersetzungs- und Konfliktkultur. Dies muss allerdings von den Führungsgremien gemeinsam gewollt werden und in transparenten Prozessen in der ganzen Schulgemeinschaft auf den verschiedenen Ebenen angelegt werden. Weiterhin ist eine Professionalisierung auf verschiedenen Gebieten dafür sinnvoll und notwendig. Meiner Erfahrung nach wird so ein Kulturwandel in der Regel etwa 7 Jahre dauern, bis er wirklich den ganzen sozialen Organismus erfasst hat. Die Führungsgremien sind dafür immer Vorbild und sollten mit gutem Beispiel vorangehen, um damit die richtigen Signale für die weitere Entwicklung zu setzen.
Anhang:
Der Versuch eines Überblicks:
typische Konfliktfelder an Freien Waldorfschulen
Pädagogik
- Tradition <> Erneuerung
- Was ist wirklich Waldorf?
- Welche Methoden sind zulässig/richtig?
- Müssen alle Schüler alles machen?
- dieser Schüler kann nicht mehr von mir unterrichtet werden
- ich lasse keinen anderen in meinen Unterricht
- ich bestimme allein, was in meiner Klasse gemacht wird
- der Klassenlehrer/Fachlehrer/Förderlehrer unterstützt mich zu wenig
- Lehrer mit schlechtem Ruf/Unterricht halten sich, werden gehalten/geschützt <> sich von diesen Lehrern trennen
- mein Kind wird vom Lehrer nicht richtig gesehen/behandelt
- der Lehrer versteht unsere Anliegen als Eltern nicht
- unser Kind lernt zu wenig/ist überfordert
- der Lehrer ist fachlich und pädagogisch ungenügend
Haltungen
- hohes Engagement <> innere Kündigung, Resignation
- Überlastung <> Schonung
- ich weiß, wie es geht <> wir lernen gemeinsam
- der Lehrer als Einzelkämpfer/Alleinherrscher <> Teamarbeit
- ich mache, was ich will <> ich spreche mich ab und arbeite zusammen
- Regeln gelten für mich nicht <> gemeinsam vereinbarte Regeln sind verbindlich
- mir hat niemand etwas vorzuschreiben <> es muss endlich Konsequenzen geben
- Schuld sind immer die anderen
- wir sind alle gleich <> die unterschiedlichen Fähigkeiten werden richtig eingesetzt
- die/der passt nicht zu uns <> Vielfalt ist wichtig, Unterschiede beleben
- niemand darf mir gefährlich werden <> ich freue mich, wenn der andere gut ist
- die Lehrer bestimmen die Schule
- wir haben als Eltern das Recht mitzubestimmen
- schließlich geht es hier um unsere Kinder
- Sorge der Eltern, dass bei Kritik das Kind darunter leiden muss
- wenn wir bezahlen, können wir auch etwas fordern
- die Dominanz der Lehrer ist nicht akzeptabel
- nur wenn wir als Eltern Druck machen, bewegt sich etwas
- die Pädagogik muss vor Einzelinteressen geschützt werden
Ideologie
- Anthroposophen <> Nicht-Anthroposophen
- Waldorfideale <> „Realismus“ der Prüfungen
- Basisdemokratie <> Arbeitsteilung
- Alle müssen alles machen <> Professionalisierung
- Alle entscheiden gemeinsam <> Delegationen entscheiden
- Alle führen <> Führung ist eine spezielle Delegation
- Eltern bestimmen überall mit <> die Schule wird von den Lehrern betrieben
- die Eltern sind die Auftraggeber/Arbeitgeber <> die Eltern sind Kunden
Selbstverwaltung
- Konsumenten, Trittbrettfahrer <> Tätige, Engagierte
- faule <> fleißige Kollegen
- Mitläufer <> Macher
- Opfer <> Machthaber
- Abmahnung, Kündigung eines Kollegen
- Führungsfunktion macht einsam
- die Führungskraft bedient bestimmte Vorurteile z.B. bzgl. Machtausübung
- Vorwurf des Machtmissbrauchs
- Eltern müssen überall beteiligt werden
- Eltern machen Druck auf die Schule
- Eltern haben eigene Bereiche, in denen sie sich selbst verwalten
Persönliche Ebene
- Sachliche Gegensätze werden zu persönlichen Gegensätzen
- Verletzungen, Kränkungen,
- beim Wechsel in eine Führungsposition kommen ungelöste persönliche Konflikte hoch
- persönliche Konkurrenz der Machthaber
- persönliche Freundschaften zerbrechen
- frühere Freunde werden die schlimmsten Feinde
- zu große persönliche Nähe zwischen Eltern und Lehrern
- Beziehungskonkurrenz – Ehen zerbrechen durch Partnerwechsel innerhalb des Kollegiums oder auch zwischen Lehrern und Eltern der eigenen Klasse
- Eltern fühlen sich persönlich angegriffen
- Lehrer fühlen sich persönlich angegriffen
- Schüler fühlen sich persönlich angegriffen
Konfliktprophylaxe an der Waldorfschule
[1] Der besseren Lesbarkeit halber wird das generische Maskulin verwendet. Es sind jedoch immer Frauen und Männer gleichermaßen gemeint.
[2] Aus meiner 21-jährigen Erfahrung als Oberstufenlehrer und geschäftsführender Vorstand einer zweizügigen Waldorfschule und aus meiner nun schon über 30-jährigen Erfahrung in der intensiven Begleitung von inzwischen über 90 Freien Waldorfschulen in Deutschland und in angrenzenden Ländern und aus meiner Kenntnis einer Reihe von weiteren Waldorfschulen aus meiner Supervisionstätigkeit, vor allem aber aus der Bearbeitung vieler großer und schwieriger Konflikte, die zum Teil die gesamte Schule ergriffen hatten, kann ich in Bezug auf Konflikte an Waldorfschulen auf ein breites Spektrum von Erfahrungen zurückgreifen.
[3] hier wird auf die Systematik, die Entstehung und die Dynamik von Konflikten nicht eingegangen. Hilfreiche Literatur dazu von Friedrich Glasl: Konfliktmanagement, ders.: Selbsthilfe in Konflikten, ders.: Konflikt, Krise, Katharsis, alle im Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart
[4] Warme oder heiße Konflikte sind offenkundig, werden von den Konfliktparteien als solche erlebt und sind deshalb einer Bearbeitung zugänglich
[5] Kalte Konflikte sind verborgen, unter der Decke, werden zumindest von einer der beiden Parteien – manchmal auch von beiden – geleugnet und sind deshalb nicht zu bearbeiten
[6] Vgl. auch die Artikel des Verfassers in der Zeitschrift Erziehungskunst http://www.erziehungskunst.de/artikel/selbstverwaltung-traeume-und-tatsachen/konflikt-krise-und-entwicklungschancen/ bzw. auf seiner Website unter Veröffentlichungen
[7] Ein schönes Beispiel aus der evangelischen Schule in Berlin-Mitte findet sich in dem Buch von Margret Rasfeld: EduAction: S. 145f das Lob in der Schulversammlung zum Wochenabschluss am Freitag. Das Buch enthält viele gute Beispiele für eine positive Lernkultur.
[8] Beispiele finden sich dem Buch von Michael Harslem/Dirk Randoll: selbstverantwortliches Lernen an Freien Waldorfschulen, Peter Lang Verlag, 2013, weiterhin auf der Website www.selbstverantwortliches-lernen.de
[9] vgl. Michael Harslem: Wie arbeiten Eltern und Lehrer zusammen? Verlag Freies Geistesleben, vergr., jetzt über die Pädagogische Forschungsstelle Stuttgart zu beziehen
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