Selbstverwaltung? Selbstorganisation! Teil 7

Selbstverwaltung? Selbstorganisation! Teil 7

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Ein Versuch, an die Ursprungsimpulse der Waldorfschule anzuknüpfen und sie mit den neueren Entwicklungen zur Selbstorganisation zu verbinden

Teil 7 von 8

Der besseren Lesbarkeit halber wird an bestimmten Stellen das generische Maskulin verwendet, es sind damit jedoch immer alle Geschlechter gleichermaßen gemeint.

Das unterstützende Umfeld

Wenn wir im Mittelpunkt der Freien Waldorfschule die Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrerinnen und Lehrern haben, so haben wir um den Organismus herum ein breites Feld von Unterstützung! Diese Unterstützerinnen und Unterstützer sind nicht direkt an der Wertschöpfung beteiligt, sondern sie helfen auf verschiedenen Feldern, dass die Schule möglichst gut gelingen kann.

Gehen wir von dem hauptamtlichen geschäftsführenden Vorstand aus, so hat dieser einen ehrenamtlichen Aufsichtsrat aus Eltern und Lehrern, der einerseits den Vorstand bestellt und für dessen Arbeitsfähigkeit verantwortlich ist, andererseits den Vorstand laufend berät und unterstützt. Der Aufsichtsrat gibt der Mitgliederversammlung die Garantie, dass der Vorstand gut arbeitet.

Viele Schulen haben neben dem Träger auch ein Förderverein, dessen Aufgabe es ist, den Schulbetrieb auf verschiedenen Feldern zu unterstützen. Die Aufgaben der Fördervereine sind je nach Bundesland unterschiedlich. In Nordrhein-Westfalen besitzt der Förderverein die Gebäude und vermietet diese an den Träger. In anderen Bundesländern sorgt der Förderverein nur für zusätzliche Spenden für die Schule.

Das wichtigste unterstützende Umfeld der Schule sind die Eltern, die ihre Kinder an der Schule haben. Einerseits sorgen sie durch ihre Elternbeiträge für einen wesentlichen Anteil an der laufenden Finanzierung der Schule. Andererseits können Sie Ihre beruflichen und persönlichen Kompetenzen in die Schule einbringen. Das sollte sich in erster Linie auf die Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Lehrern beziehen, sodass zum Beispiel die Eltern bei allen Kinderbesprechungen ihrer Kinder beteiligt sind, um eine bestmögliche Förderung des Kindes zu ermöglichen. Weiterhin können Eltern ihre beruflichen Kompetenzen sowohl in der Berufsorientierung für die Schüler als auch in einzelnen Arbeitsgemeinschaften für die Schüler zur Verfügung stellen. Eltern, die in Mediation oder Konfliktbearbeitung professionell sind, können dies auch innerhalb ihrer Schule einbringen, zum Beispiel auch in der Schulung der Schüler-Konfliktlotsen.

Besonders zu hinterfragen ist aus meiner Sicht in den Waldorfschulen die Rolle der verschiedenen ehrenamtlichen Arbeitskreise für die unterschiedlichsten Dienstleitungs-Aufgaben, in denen viele gutwillige Eltern und Lehrer mit oft großem Einsatz, aber häufig mit wenig Effizienz, wenig Befugnissen und teils mit geringem Erfolg zusammenarbeiten. Es gibt natürlich auch sehr gut und professionell arbeitende Arbeitskreise, das ist aber meiner Erfahrung nach nicht die Regel.

So wertvoll die Begegnung von Eltern und Lehrern sowie Eltern und Eltern an gemeinsamen Aufgaben sein kann, so muss im Sinne einer Wertschätzung des ehrenamtlichen Einsatzes sehr sorgfältig mit diesen Ressourcen umgegangen werden, die alle diese Menschen zusätzlich zu ihren Familien, den ohnehin vollen Arbeitstagen und Terminkalendern für die Schule zu leisten bereit und fähig sind. Dieses Thema erfordert eine gründliche, ideologiefreie Betrachtung der möglichen Rollen der Eltern in einer selbstorganisierten Waldorfschule.

Aus meiner Sicht sollten die Eltern-Kapazitäten viel mehr auf den Kernprozess bezogen beteiligt werden, wie in gemeinsamen Kinderbesprechungen, Verständnis für die Grundprinzipien der Waldorfpädagogik, Erziehungsfragen, Angeboten für Schüler wie Arbeitsgemeinschaften, Projekte u.a. Auf jeden Fall kommt den Eltern eine wichtige Rolle als Unterstützer der Schule auch in der Außenvertretung zu. Sie prägen das Bild der Waldorfschule im Umfeld mehr als alle noch so professionelle Öffentlichkeitsarbeit. Als wissende Insider werden sie von Interessenten befragt und mit ihren Aussagen ernst genommen. So sind sie neben den Schülerinnen die wichtigsten Botschafter der Schule.

Die Schüler sprechen in der Regel sehr unverblümt über die Vorzüge und die Probleme ihrer Schule. Sie sind sowohl für die Eltern als auch für Außenstehende wichtige Botschafter und Zeugen für die Qualität ihrer Schule. So kommt der gelingenden Selbstorganisation der Schüler eine wichtige Bedeutung zu. Dazu gehört auch eine funktionierende Schüler-Vertretung, die in geeigneter Weise in die sie betreffenden Prozesse eingebunden wird.

Ein in vielen Schulen noch wenig aktiviertes Umfeld, das jedoch viele Unterstützungen bieten kann, sind die ehemaligen Schüler und ehemaligen Eltern. Sie kennen die Schule gut und sind in der Regel positiv mit ihr verbunden geblieben. Es ist eine Aufgabe der Führung die Kontakte zu den Ehemaligen zu pflegen und ihre Kompetenzen und Ressourcen für die Schule zugänglich zu machen.

In manchen Schulen gibt es auch einen Freundeskreis, der zwar nicht institutionell gefasst ist, aber zu allen Schulveranstaltungen eingeladen wird und der sich dadurch positiv mit der Schule verbindet. Das betrifft insbesondere die Sponsoren, die durch kleinere oder größere Spenden die Schule einmalig oder laufend unterstützen.

Ein weiteres unterstützendes Umfeld ergibt sich durch die vielfältigen Praktika der Schule. So haben manche Schulen ein Umfeld von 50-100 biologisch-dynamischen Höfen, die für das Landwirtschaftspraktikum oder das Forstpraktikum mit der Schule zusammenarbeiten. Das gleiche gilt für die Handwerksbetriebe, in denen die Schüler ja Handwerkspraktikum absolvieren. Auch diese unterstützen durch ihre Bereitschaft, Praktikanten für vier Wochen zu beschäftigen, dass Lernkonzept der Schule und bilden damit gleichzeitig einen praktischen Arbeitsbereich um die Schule herum. Auch das Industrie- und Sozialpraktikum ermöglichen viele Kontakte zu sozialen Einrichtungen oder auch zu Industriebetrieben, die in der Regel mit den bei ihnen arbeitenden Waldorfschülern sehr zufrieden sind und ein positives Bild von der Waldorfpädagogik haben.

Im weiteren Sinne kann man auch alle Lieferanten, zu denen gute, verlässliche Beziehungen aufgebaut werden, zum unterstützenden Umfeld der Schule zählen.

Ein weiterer Bereich ergibt sich durch die Kontakte zu den Behörden und Politikern. Dies ist ein Feld dass der besonderem Pflege bedarf, damit die Waldorfschule als verlässlicher Partner erlebt wird. Gerade die Politiker und Behörden sind vielen negativen Urteilen über die Waldorfschulen ausgesetzt, die nur durch persönliche Kontakte entkräftet werden können.

Daraus ergibt sich folgendes Bild des Zusammenspiels von Führung und Unterstützung:

Die eigentliche Führung geht vom Kernprozess aus. Dieser bestimmt welche Dienstleistungen notwendig sind und was alles an Willensbildung und Koordination für den Kernprozess nötig ist. Dies wird von den geschäftsführenden Vorständen aufgegriffen, um die notwendigen Unterstützungen für den pädagogischen Kernprozess geben zu können. (Dies ist dem alten Führungsverständnis diametral entgegengesetzt, dass immer davon ausgeht, dass die Führung bestimmt und die anderen zu entsprechenden Handlungen veranlasst.) Hier greift die Führung den Bedarf des Kernprozesses auf und versucht, ihn bestmöglich im vorgegebenen Rahmen zu unterstützen.

Die Richtungen von Führung und Unterstützuung in der Waldorfschule

Das ist entgegengesetzt dem herkömmlichen Führungsverständnis, in dem Führung über Weisungen bestimmt, statt zu unterstützen. In der Selbstorganisation führt die Wertschöpfung!

Das Gesamtbild im Überblick

Setzen wir das alles nun zusammen, so ergibt sich daraus folgendes mögliches exemplarisches Gesamtbild einer selbstorganisierten Freien Waldorfschule als kollegial geführter sozialer Organismus, hier das Bild der einzügigen Freien Waldorfschule mit einem Team pro Klasse. Es wird sich in allen Bereichen um kleine Teams handeln, für die Klassen etwa drei Personen, in Kindergarten, Ganztagsschule, Therapien etc. und den Prüfungsklassen ggfs. größere Teams. Die Dienstleistungen werden wegen der Größe der Schule meistens von ein bis zwei Personen professionell erledigt werden können zum Teil übergreifend.

Auch die Koordinationsgremien werden relativ klein sein und können sich noch gut in einer gesamten Koordinationskonferenz abstimmen.

Für die unternehmerische Führung der Schule werden in der Regel drei geschäftsführende Vorstände tätig sein, die für diese Aufgabe am besten geeignet sind. Sie vertreten die Bereiche Personal, Schulbetrieb und Finanzen nach innen und nach außen. Sie führen auf Augenhöhe und unterstützen alle im sozialen Organismus, damit die Aufgaben bestmöglich erledigt werden können.

Für die zweizügige Freie Waldorfschule mit den Teams pro Klasse haben wir deutlich mehr Teams im Wertschöpfungsbereich. Auch die Dienstleistungsbereiche werden aufgrund der Größe der Schule und der viel größeren Schülerzahl umfänglicher von professionellen Kräften versorgt werden. An die Koordination stellen sich in einer großen Schule mit ca. 130-150 Mitarbeitern deutlich höhere Anforderungen als in einer einzigen Schule. Hier müssen die Spielregeln für die Vertretung in übergreifenden Gremien noch viel genauer definiert werden, die Entscheidungsbereiche deutlich konturiert werden und auf jeden Fall neue Formen der Willensbildung und Entscheidung vereinbart, angelegt und geübt werden.

Dieser Veränderungsprozess muss in jedem Fall sehr gut geplant und gesteuert werden und wird meiner Erfahrung nach mehrere Jahre in Anspruch nehmen.

Erfahrungen

In der Regel funktioniert die Selbstorganisation als Waldorfschule in der Gründungsphase bzw. Pionierphase noch recht gut, etwa bis die kritische Größe von ca. 10-12 Mitgliedern des Gründungskreises bzw. des Kollegiums überschritten wird. Ab dann wird die Selbstorganisation zunehmend schwieriger. Aus der Erfahrung der kollegial geführten Unternehmen wissen wir inzwischen, dass selbstorganisierte Einheiten sich nur bis zu einer Größe von maximal 10 Mitgliedern selbst organisieren können, darüber hinaus geht das nicht mehr! Sie erfüllen alles wichtigen Bedingungen für die Selbstorganisation, alle

  • haben ein gemeinsames Ziel, gemeinsame Werte
  • sind hoch motiviert,
  • stellen ihre Egoismen hintan, um das gemeinsame Projekt voranzubringen,
  • fühlen sich voll verantwortlich für alles, was sie tun,
  • bringen vollen Einsatz,
  • arbeiten konstruktiv zusammen,
  • sind in ständigem konstruktivem Austausch
  • halten sich an die gemeinsamen Spielregeln.

Mit dem Wachstum des sozialen Organismus gehen diese Bedingungen zunehmend verloren und werden durch Organisation und Verwaltung ersetzt. Weiterhin hat die Erfahrung gezeigt, dass ab einer Größe von ca. 30 Mitgliedern auch übergeordnete Gremien nicht mehr richtig arbeitsfähig sind und sich zunehmend in der Arbeit selbst lähmen. Diese Erfahrung können sehr viele Waldorfschulen bestätigen. Vielleicht hilft uns das, diese Bedingungen ernst zu nehmen und neue Formen anzulegen.

Weitere wesentliche Unterschiede der Waldorfschulen zu den neuen selbstorganisierten Unternehmen liegen deshalb auch

  • in den zu großen Einheiten,
  • in den fehlenden Rollenklärungen,
  • in den weitgehend fehlenden expliziten, verbindlich vereinbarten Spielregeln, die auch eingehalten werden wollen und müssen,
  • in den unzulänglichen, weil der Selbstorganisation nicht wirklich angemessenen Entscheidungsverfahren.
  • in der fehlenden ständigen Reflexion zu Verbesserung der Wertschöpfung
  • in dem fehlenden internen Coaching der selbstorganisierten Teams

Der Blickwechsel von der Selbstverwaltung zur Selbstorganisation einer Waldorfschule gibt uns deshalb die Möglichkeit, die vielfältigen Erfahrungen der selbstorganisierten kollegial geführten Unternehmen in aller Welt auf den sozialen Organismus einer Waldorfschule zu beziehen und die dort entwickelten Prinzipien, Methoden und Instrumente auch hier in einer der Waldorfschule entsprechenden Weise anzuwenden. Aus meiner Sicht kann dies nach 100 Jahren ein deutlicher Schritt der Erneuerung der Strukturen, der Prozesse und der Funktionsprinzipien sein, der wieder direkt an die ursprünglichen Intentionen Rudolf Steiners mit der Waldorfschule anschließt.

Ein neues Verständnis von Selbstorganisation, das das bisherige Bild der Selbstverwaltung ersetzt und erweitert, kann in einem schrittweisen Lernprozess auf allen Ebenen zu einer Konzentration auf die „Wertschöpfung“, also auf den von Lehrern und Schülern selbstorganisierten Unterricht, führen und eine Professionalisierung der selbstorganisierten Dienstleistungen sowie eine klare unterstützende Führung durch einen kleinen Koordinationskreis/ geschäftsführenden Vorstand ermöglichen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass

  • die Selbstorganisation der einzelnen Lehrer in Bezug auf die einzelnen Unterrichte in der Waldorfschule zwar sehr gut ausgeprägt ist, aber noch nicht wirklich kontinuierlich in schülerbezogenen Teams gearbeitet wird,
  • die Selbstorganisation sowie die Teamarbeit für das Arbeiten und Lernen der Schüler wenig ausgeprägt ist und deshalb noch sehr stark ausgebaut werden könnte,
  • die kollegiale Selbstorganisation als Schule mit ihren vielen „Abteilungen“ weitgehend ohne die – für eine Selbstorganisation notwendigen und passenden – Spielregeln gestaltet wird, die inzwischen in den unterschiedlichen kollegial geführten Unternehmen erfolgreich praktiziert werden,
  • die Dienstleistungen in manchen Bereichen zu unprofessionell erledigt werden.

Insofern können die Waldorfschulen davon noch viel für ihre Selbstorganisation lernen.

Ich wünsche mir, dass das hier dargestellte Prinzip der umfassenden Selbstorganisation mit Ausrichtung auf die Entwicklung des werdenden Menschen zu einem starken Entwicklungsimpuls für die Gemeinschaften der Freien Waldorfschulen werden kann.

Michael Harslem


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Bild von Steve Bidmead auf Pixabay

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