Ganz auf die Individualität bauen! Teil 4
Geht das überhaupt? Was bedeutet das für die Waldorfschule?
Inhalt
- 05 Was bedeutet das für den Waldorflehrer?
- 06 Da nicht alle gleich sind, sollten nicht alle das Gleiche zur gleichen Zeit machen müssen – und können nicht alle alles machen
- 07 Falsch interpretierte Reaktionsmuster
Dieser Aufsatz erhebt ausdrücklich keinen wissenschaftlichen Anspruch, sondern will verschiedene Aspekte zu dem Thema zugänglich machen! Die Literaturangaben sind nicht als wissenschaftliche Belege gedacht, sondern als Hinweise auf weiterführende Literatur oder Filme zu der jeweiligen Fragestellung, so dass der interessierte Leser dort weitersuchen kann.
Der besseren Lesbarkeit halber wird in den Fällen, in denen das Gendern zu umständlich wird, das generische Feminin oder Maskulin verwendet. Es sind damit immer alle Geschlechter gleichermaßen gemeint.
05 Was bedeutet das für den Waldorflehrer?
Für den Waldorfpädagogen gibt Rudolf Steiner neben den allgemeinen Übungen zur Selbsterziehung, wie sie in dem Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ (GA 10[1]) in vielfältiger Weise aufgeführt sind, noch zusätzlich eine Reihe spezieller Übungen, um sich als Pädagogin selbst so zu erziehen, dass man für das sich selbst erziehende Kind die richtige Umgebung, das richtige Vorbild sein kann. Wir müssen uns immer wieder neu ins Bewusstsein rufen, dass die kleinen Kinder direkt vertrauensvoll, zugewandt, ungeschützt, ungefiltert in sich aufnehmen, wie wir als Erwachsene sind, wie wir fühlen und denken. Damit haben wir große Wirkungen auf die Seele des Kindes und sollten uns diese Verantwortung immer wieder bewusst machen. Das macht den Beruf des Waldorfpädagogen, der Erzieherin, der Hortnerin und des Lehrers so anspruchsvoll!
Zum bewussten Umgang mit sich selbst, zur eigenen Selbstführung helfen auch die sogenannten sechs Nebenübungen oder Grundübungen[2], von denen Steiner sagt, dass sie jeder Meditierende üben sollte, um mögliche schädliche Wirkungen von Meditation zu vermeiden. Sie bewirken, dass ich meine verschiedenen Seelentätigkeiten – Denken, Fühlen und Wollen – immer bewusster ergreifen lerne und mich dadurch immer mehr selbst führen lerne. Diese Übungen beginnen mit der Führung des Denkens. In der Folge wird jeweils eine nächste Übung dazu genommen und die vorherigen weitergeübt. Dann folgt die Führung des Willens, dann die der Gefühle, die nach Rudolf Steiner der Ausgangspunkt sowohl für das Denken als auch für das Wollen sind. (s.a. Allgemeine Menschenkunde, GA 293, 4.+5. Vortrag)[3] Darauf aufbauend kann dann als 4. Schritt Positivität geübt werden und in der Folge als 5. Schritt Unvoreingenommenheit/ Unbefangenheit/ Vorurteilslosigkeit. Der 6. Schritt ist dann die Ausdauer, alle 5 Selbstführungsübungen simultan gleichzeitig zu machen und so in das tägliche Leben zu integrieren, dass man sie ganz selbstverständlich handhaben kann. (ausführlich beschrieben an verschiedenen Orten unter anderem in GA 10)[4]
In vielen speziellen Vorträgen für die Waldorflehrer und in den Konferenzen der ersten Waldorfschule[5] hat Rudolf Steiner den ersten Waldorflehrerinnen eine Fülle von Hinweisen zur Seelenhygiene und zur Erweiterung der Erkenntnisfähigkeiten sowie zu einer vertieften Erkenntnis des werdenden Menschen gegeben. Dazu gab er noch zwei ganz spezielle Berufsmeditationen für Waldorflehrer, die ganz auf das Erkennen und die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, des Individuums ausgerichtet sind. Diese beiden Meditationen erschließen sich einem in der Regel nur langsam, können aber im regelmäßigen Umgang und Üben damit zu einer inneren Kraftquelle für das Lehrersein werden. Viele Hinweise finden sich in dem Buch „Zur meditativen Vertiefung des Lehrer- und Erzieherberufs[6], das in jeder Waldorfschule für die Lehrer zur Verfügung gestellt wird.
Respekt vor dem anderen setzt den Respekt vor sich selbst voraus
Der Respekt vor dem anderen Menschen setzt immer den Respekt vor sich selbst als Individualität voraus. So muss sich jeder Erwachsene fragen, wie es damit bestellt ist. Wie steht es um mein Selbstwertgefühl? Woraus beziehe ich das? Wovor habe ich Angst? Worüber mache ich mir Sorgen? Wieweit kenne ich mich als Individualität? Welches Schicksalsverständnis habe ich? Lebe ich es auch? Wieweit gelingt mir meine Selbstführung so, dass ich für das Kind ein gutes Vorbild sein kann? Kann ich mich in der richtigen Weise so abgrenzen, dass mir andere nicht zu nahetreten dürfen? Bin ich trotzdem – oder gerade deshalb – empathisch genug, auf den anderen einzugehen? Wann fühle ich mich angegriffen? Wann schwach? Unterlegen? Wie reagiere ich darauf? Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Fragen, die man sich stellen kann, um dem Verhältnis zur eigenen Individualität auf die Spur zu kommen.
In der deutschen Sprache stößt man dabei auf aufschlussreiche Formulierungen z.B. auf: „ich beherrsche mich!“ Da kann ich mich fragen: wer beherrscht da wen? Oder als ein anderes Beispiel: „Ich komme zu mir?“ Und ich kann mich fragen: Wer kommt da zu mir? Ich kann mich da innerlich vertiefend hineinbegeben und mich auf eine innere Forschungsreise begeben. Wenn ich mich meditativ darein vertiefe, komme ich dazu zu spüren, dass da in mir noch ein anderer, ein höherer Mensch existiert, lebt, der meine eigentliche Individualität ist, von dem ich geführt werde bzw. von dem aus ich mich selbst führen kann. Ich glaube, jeder kennt diese innere Stimme, die einem sagt, was richtig oder falsch ist. Nur wird sie oft zum Verstummen gebracht und spricht dann nicht mehr. Rudolf Steiner beschreibt in „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“[7], dass jeder diesen höheren Menschen nur selbst in sich finden kann, dass er nicht von außen geweckt werden kann. Meiner Erfahrung nach kann aber die Spiegelung anderer Menschen – sei sie positiv oder auch negativ – einem dabei helfen, in diesem Sinne zu sich zu kommen, zu seinem eigentlichen Ich aufzuwachen, wahrhaftig mit sich selbst zu werden.
Diese Selbsterkenntnis hilft, sich gegenüber anderen Erwachsenen und auch gegenüber Kindern und Jugendlichen zu wahren und abzugrenzen. Nur wenn ich mir selber Grenzen setzen und diese auch einhalten kann, kann ich das auch für andere glaubwürdig tun! Eltern und Lehrer sind sehr oft in besonderer Weise gefordert, da die Kinder die Grenzen nur kennenlernen, wenn sie sie austesten und überschreiten. Und das tun sie mit Ausdauer, bis sie sie ausgelotet, erlebt, erfahren und dadurch(!) erkannt haben. Das bedeutet auch, dass der Erwachsene, der sich selbst Grenzen setzt und diese auch übend einhält, darin ein Vorbild ist und auch dem Kind liebevoll Grenzen zeigen und setzen kann und muss, damit es altersgerechte Erfahrungen machen und sich dabei sicher fühlen kann. Schwierig wird es für Kinder immer dann, wenn die Erwachsenen die Grenzen, die sie ihnen setzen, selbst nicht einhalten. Dann sind die Erwachsenen unglaubwürdig.
„Lasst die Kinder wieder Kinder sein! Oder: die Rückkehr zur Intuition“ – ist der Titel eines aus meiner Sicht lesenswerten Buches von Dr. Michael Winterhoff[8], in dem er – wie in seinen anderen Büchern[9] auch – das seelisch-reife Abgegrenztsein der Erwachsenen und das liebevolle Grenzen-Setzen-Können als wichtige Voraussetzung für die seelische Entwicklung des Kindes beschreibt. Aus den Erfahrungen in seiner kinderpsychotherapeutischen Praxis macht er deutlich, wie Eltern, die ihre Rolle falsch verstehen und sich zu Partnern oder Dienern ihrer Kinder machen, sie damit in ihrer seelischen Entwicklung behindern. Typisch für diese Kinder ist, dass sie die Erwachsenen nicht in ihrer Führungsrolle anerkennen, sondern selbst bestimmen wollen, was gemacht wird. Sie sind nicht bereit, auch gemeinsam vereinbarten Verabredungen Folge zu leisten, und müssen immer mehrfach aufgefordert und ermahnt werden. Das kann bis zu destruktivem Verhalten gehen, wenn sie das zu Hause als erfolgreiches Muster erlebt und angewendet haben.
Diese Kinder können allerdings nichts dafür, da diese Muster von den Eltern im Elternhaus mit ihnen eingeübt worden sind. Sie sind dadurch von klein auf gewöhnt, dass die Erwachsenen sich von ihnen „steuern“ lassen. Sie haben damit nicht gelernt, sich in eine soziale Gemeinschaft einzufügen oder gar von Erwachsenen „bestimmen“ zu lassen. Sie können sich mit ihren zu Hause entwickelten und dort bewährten Mustern immer die Aufmerksamkeit der anderen holen. Sie machen damit aber das Leben in einer Klasse schwer, weil sie immer ihre von zu Hause gewohnte Sonderrolle unbewusst auch von den Lehrern einfordern. Das kann zu erheblichen Beeinträchtigungen des sozialen und des Lern-Klimas einer Klasse führen. Aus meiner Sicht müssten für diese Kinder besondere Lern-Situationen geschaffen werden, in der mit einer liebevollen, verständnisvollen Begleitung in kleinen Übungsschritten mit konsequenter Grenzensetzung die seelische Reifung des Kindes nachgeholt werden kann. Eine große Klasse ist jedoch in der Regel nicht der richtige Ort dafür, da sie noch nicht die nötige Sozialkompetenz entwickeln konnten, die sie für ein Zusammenleben in einer Klasse brauchen. Durch ihre nicht vorhandene Sozialkompetenz kommen sie immer in Stress- und Angstzustände, sind deshalb im Ausnahmezustand und für eine Ansprache nicht mehr erreichbar.
Die Würde des Kindes achten
Bitte folgen Sie einmal unbefangen meiner folgenden These:
Die Seelen unserer Kinder waren länger in der geistigen Welt als wir Eltern oder Lehrer. Sie sind damit geistig belehrter (auch wenn sie das natürlich nicht wissen) als wir und können uns unbewusst, durch ihre Äußerungen, ihre Willensintentionen, ihre Gefühlsregungen, ihre Erkenntnisse… etwas von ihren mitgebrachten Impulsen zeigen und Botschaften aus der geistigen Welt vermitteln, die wir älteren vor unserer Geburt dort noch nicht empfangen konnten.
Ein Kind kann somit eine viel erfahrenere und begabtere Individualität sein als seine Eltern und seine Lehrer. Das heißt aber nicht, dass das Kind nicht jetzt doch wieder alles neu lernen musss, was es für dieses diesmalige irdische Leben braucht. Es lernt jedoch jeweils individuell geprägt anders und schneller. Gerade der Umgang mit anderen Menschen, mit Gegenständen, der Natur, aber auch mit Herausforderungen muss wieder neu erworben werden. Das geschieht unbewusst am Vorbild der Erwachsenen, die sich als Eltern und Pädagogen immer dessen bewusst sein sollten. Damit erwerben die Kinder sich die seelischen Voraussetzungen, dass sie ihre Individualität in der Begegnung mit Erwachsenen, anderen Kindern, in der Gruppe, in der Klasse und in allen sozialen Begegnungen in der ihnen entsprechenden Weise entfalten können, nicht ohne Vorbilder, aber auch ohne Schule und organisiertes Lernen.
Für die Waldorflehrer gibt Steiner den Hinweis, sich innerlich vor Augen zu halten, dass in jedem Kind ein Genie stecken könnte, an das der Pädagoge nicht heranreichen kann. Er gibt dafür den Lehrern folgenden Hinweis:
„Wir können uns da außerordentlich zu Hilfe kommen, wenn wir, ich möchte sagen, wiederum meditierend uns recht tief zum Bewusstsein bringen, dass alle Erziehung mit der wirklichen Individualität des Menschen im Grunde genommen gar nichts zu tun hat, dass wir eigentlich als Erzieher und Unterrichter im Wesentlichen die Aufgabe haben, mit Ehrfurcht vor der Individualität zu stehen, ihr die Möglichkeiten zu bieten, dass sie ihren eigenen Entwicklungsgesetzen folge und wir nur die im Physisch-Leiblichen und im Leiblich-Seelischen, also im physischen Leibe und im Ätherleibe liegenden Entwickelungshemmungen wegräumen.“[10]
Der meditative Umgang mit den einzelnen Kindern
Um die Schüler besser und vertiefter verstehen zu lernen, empfiehlt Rudolf Steiner[11] den Waldorflehrern sich die Kinder/Jugendlichen am Abend (er sagt damals: vor ihrer Meditation) innerlich vor die Seele zu stellen mit der Frage: was willst Du auf der Welt? Was hast Du Dir für dieses Leben vorgenommen? Und am Morgen (nach ihrer Meditation) sich die Kinder so vor die Seele zu stellen, wie sie aussehen. Ich habe das selbst viele Jahre lang geübt, durchgeführt und bemerkt, wie die innere Verbindung zu den Schülern dadurch immer weiter wächst und sich vertieft. Ich nehme die Frage mit durch die Nacht und ich bin früh innerlich jeder und jedem schon einmal begegnet, bevor ich sie und ihn an der Klassentüre begrüße. Es ist eine tiefere innere Verbindung entstanden. Man ist sich nicht mehr so fremd. Die Beziehung intensiviert sich, vertieft sich. Bei der Begrüßung sagen mir der Händedruck, der Blick, die Haltung, die Spannung etc. schon ganz viel über den Zustand des Kindes/des Jugendlichen. Jede Individualität blitzt in dieser kurzen Begegnung auf. In der Pädagogik kommt alles auf die (innere) Beziehung an! Waldorfpädagogik sollte in diesem Sinne vor allem „Beziehungspädagogik“ sein.
Das Bild des Kindes – behutsame Annäherungen an die Individualität
Mit verschiedenen Bezeichnungen wie Kinderbesprechung, Schülerbesprechung, Kinderkonferenz, Schülerkonferenz u.ä. ist in der Waldorfschule eine schon lange gepflegte Art der Besprechung gemeint, in der sich die Erwachsenen um ein vertieftes Verständnis eines ihnen anvertrauten Kindes bemühen. Es sind verschiedene Formen dazu entwickelt worden, von denen jede jeweils spezifische Aspekte in den Fokus nimmt, auf die aber hier nicht näher eingegangen werden soll. (z.B. Anna Seydel, Christof Wiechert, Ingrid Ruhrmann, Bettina Henke) [12]
Das Wesentliche ist für mich dabei, dass in solch einer Runde ein gemeinsamer innerer seelischer Raum geschaffen wird, indem alle Beteiligten sich bemühen, selbstlos über die Phänomene die spezielle Art dieses Kindes zu erfassen, in der sich seine Individualität ausdrückt, um so zu einem vertieften Verständnis des Kindes zu kommen. Aus meiner Sicht gehören nicht nur die Lehrer, die das Kind kennen, sondern auch unbedingt die jeweiligen Eltern dazu. Gelingt es, absichtslos und unvoreingenommen in der Runde ein lebendiges Bild des Kindes entstehen zu lassen, gehen alle bereichert und mit einem tieferen Verständnis für das Kind aus so einer Runde heraus. Meiner Erfahrung nach sollte man sich dafür ca. 75-90 Minuten Zeit nehmen. (Dokument zur Kinderbesprechung gerne auf Anfrage) Ich habe oft erlebt, dass im positiven Fall das Verhalten des Kindes sich danach positiv verändert, weil es sich (unbewusst) erkannt und besser verstanden fühlt.
Wenn man jedoch bestimmte Absichten mit so einer Runde verbindet, wie z.B. bestimmte Therapien für das Kind herauszufinden oder es sogar eventuell aus der Klasse zu entfernen, kann das unter Umständen sehr behindernd auf das Entstehen eines wirklichen tieferen Verständnisses für das Kind wirken.
06 Da nicht alle gleich sind, sollten nicht alle das Gleiche zur gleichen Zeit machen müssen – und können nicht alle alles machen
Das bedeutet, dass wir als Eltern und als Lehrer die Individualität des Kindes wertschätzen, achten, respektieren müssen, so wie sie ist und wie sie sich äußert, wollen wir den o.g. Grundlagen der Waldorfpädagogik gerecht werden. Das bedeutet aber auch, dass wir auf das einzelne Kind, die einzelne Individualität so eingehen, dass nicht alle das Gleiche zur gleichen Zeit machen müssen und nicht alle zu dem gleichen Ergebnis kommen müssen. Der Unterricht muss deshalb individualisiert werden! Jedem Kind sollte die Möglichkeit gegeben werden, sich mit dem angebotenen „Stoff“ bzw. „Inhalt“ mehr oder auch weniger zu verbinden – so wie es seiner Individualität und seinem Entwicklungsstand entspricht. Das ist für Eltern wie für Lehrer oft schwer zu ertragen.
Das setzt allerdings voraus, dass ich auch unbedingtes Vertrauen in die Entwicklung des Kindes habe! Wenn dieses Vertrauen gegeben ist, wird sich meiner Erfahrung nach das Kind seine eigenen, ihm gemäßen Entwicklungsfelder suchen und darin mit Freude und unermüdlich üben. Man bezeichnet das mit intrinsischer (von innen kommender) Motivation, die der Mensch als Individualität in sich trägt! Das beste Beispiel dafür sind die kleinen Kinder, die unermüdlich üben, sich aufzurichten, zu stehen, gehen zu lernen, die die Worte, die sie hören, solange nachsprechen und damit spielen, bis sie sie sicher haben… Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Jeder, der kleine Kinder beobachtet, kann diese Wahrnehmungen eines ursprünglichen Lernwillens haben. Wenn das nicht der Fall sein sollte, muss unbedingt geprüft werden, woran das liegt.
Ist dieses Vertrauen nicht gegeben, wenn also Eltern oder Lehrer meinen, sie wüssten, was für das Kind gut sei, und müssten es dazu bringen, das dann auch zu tun, dann werden die Kinder mit den „besten Absichten“ von außen gezwungen, Dinge zu tun, sich mit Inhalten zu beschäftigen, mit denen sie eigentlich nichts zu tun haben wollen. Aus meiner Sicht ist das – auch bei bester Absicht – den Kindern gegenüber übergriffig. Dann tun die Kinder das häufig trotzdem aus Liebe zu den Erwachsenen oder aufgrund von in Aussicht gestellten Belohnungen oder angedrohten Konsequenzen und Strafen – also aus Angst. Beide Male gehen wir an der Selbsterziehung des Kindes vorbei einen Weg der Erwachsenen, der das Kind fremdbestimmt und ihm eigentlich im Tiefsten nicht gerecht werden kann. Man bezeichnet das mit extrinsischer (von außen kommender) Motivation. Das nutzen z.B. die Computerspiele, indem sie ganz bewusst auf die Kombination von Spannung, Herausforderung und Belohnung setzen, was bis zur Abhängigkeit führen kann.[13]
Das bedeutet aber andererseits nicht, dass man dem Kind nicht unbedingt dort altersgemäße Grenzen geben muss, wo es sich aus seinem Entwicklungsstand heraus selbst noch keine Grenzen geben kann!
Intrinsische Motivation als Ausdruck der Individualität
Die neuere Lernforschung und Gehirnforschung haben herausgefunden, dass ein Kind, jeder Mensch von sich aus eigentlich nur aus intrinsischer Motivation – also aus innerem Antrieb und nicht von außen gesteuert – wirklich lernt, lernen kann. (s.a. Hüther, Spitzer, Siegel, Zimpel u.a.)[14] [15] [16] [17]
Weiterhin haben sie festgestellt, dass mit extrinsischer Motivation, also Belohnung oder Strafe, die intrinsische Motivation überdeckt wird, abgelähmt wird, ja sogar zerstört werden kann, so dass die so von außen gesteuerten Kinder dann nicht mehr aus eigenem Antrieb etwas tun oder lernen (können), sondern auf den Reiz, die Belohnung oder Strafandrohung von außen warten[18]. Die intrinsische Motivation zu zerstören, bedeutet aber, den Menschen ein Stück weit von seiner Individualität abzuschneiden, abzutrennen, seine mitgebrachten Impulse zu unterdrücken, zu übergehen, sie vergessen zu machen.
Rudolf Steiner hat sich schon in seinem Vortrag „Nervosität und Ichheit“ am 11. Januar 1912 in München zu diesem Kontext geäußert. Er beklagt die Paukerei in der Universität und in den Schulen, die dazu führe, dass der Mensch sich nicht mehr innerlich mit dem Gelernten verbindet. Das Gefühl verbindet sich nicht mit dem, was der Kopf macht. Er sagt dort: „Nun gibt es für die gesamte Wesenheit des Menschen kaum etwas Schlimmeres, als wenn man seelisch, mit seinem Herzen dem fernsteht, was der Kopf treiben muss… Der Äther- oder Lebensleib wird immer schwächer und schwächer unter einem solchen Treiben wegen der geringen Verbindung, die besteht zwischen dem menschlichen Seelenkern und demjenigen, was der Mensch treibt. Je mehr der Mensch etwas treiben muss, was ihn nicht interessiert, desto mehr schwächt er seinen Äther- oder Lebensleib“[19]. Dieser Zusammenhang des Lernens mit der Schwächung oder Stärkung der Lebenskräfte ist ein besonderer Aspekt der intrinsischen Motivation, den ich an mir selbst sehr gut nachvollziehen kann. Ich hatte jedoch das Glück, dass ich mich immer geweigert habe, etwas zu tun oder zu lernen, mit dem ich mich seelisch nicht verbinden konnte. Als ich in meiner ersten Assistentenzeit in der Universität für meinen Professor das doch machen musste, habe ich mich sehr schwach gefühlt.
Das sollte uns aufwecken, wach machen dafür, die Individualität und deren Äußerungen noch viel ernster zu nehmen vor allem im Kindesalter, da diese Äußerungen spontan erfolgen und noch nicht bewusst gesteuert werden – und weil hier die entscheidenden Weichen für die Persönlichkeitsentwicklung gestellt werden. Das darf aber nicht so missverstanden werden, dass man allen Launen eines Kindes nachgeben sollte. Für alle Entwicklungen gibt es bestimmte Zeitfenster, in denen sie entwicklungsgemäß besonders gut entfaltet werden können. Sie können auch später noch nachgeholt werden, aber oft mit großem Aufwand, aber z.T. auch sehr schnell.
Glücklicherweise kommen seit einigen Jahren immer mehr sog. „autonome“ Kinder (Jesper Juul)[20] oder auch sog. „Systemsprenger“ auf die Welt, die uns zeigen, dass sie nicht gezwungen werden wollen, die ihren eigenen Weg gehen wollen, die sich nicht gefallen lassen wollen, fremdbestimmt zu werden. Sie wehren sich durch ihr Verhalten z.T. sehr heftig gegen das, was ihnen wohlmeinend aufgezwungen werden soll. Andererseits brauchen Sie aber auch abgegrenzte, selbstbestimmte Erwachsene als Vorbilder und als liebevolle, sowohl behütende, als auch Grenzen setzende Gegenüber.
07 Falsch interpretierte Reaktionsmuster
Mit ihrer Abwehr gegen Fremdbestimmung und Zwang werden diese Kinder jedoch „auffällig“! Die einen Kinder reagieren eher extrovertiert, also nach außen gehend, die anderen eher introvertiert, es in sich hineinnehmend. Die ersteren werden dann als hyperaktiv, aggressiv, ADHS, emotional-sozial gestört etc.… beschrieben, diagnostiziert, klassifiziert, die anderen als faul, antriebslos, ADS, lernbehindert, depressiv, autistisch…! So mehren sich die Klagen von Lehrern und Eltern über immer schwieriger werdende Kinder, die immer häufiger sog. Teilleistungsstörungen aufweisen.
Nicht von der Hand zu weisen sind die Wahrnehmungen, dass viele Kinder heute sowohl in ihrer motorischen Entwicklung als auch in ihrer seelischen Entwicklung im Schulalter häufig weniger altersgemäß entwickelt sind als noch vor 20 Jahren. (s.a. Winterhoff, a.a.O.[21]) Das ist durch die ganze Lebensweise mit mangelnder Bewegung, zu wenig Primärerfahrungen, durch eine falsch verstandene Rolleninterpretation der Eltern (s.a. Winterhoff a.a.O.[22]), durch zu viele durch Medien vermittelte Eindrücke (s.a. Manfred Spitzer: Digitale Demenz, Droemer Verlag 2012[23], ders.: Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert, Droemer Verlag 2015[24]) und eine Reihe weiterer Faktoren erklärbar.
Umso wichtiger ist es, den Kindern im Kindergarten und in der Schule die Möglichkeit der Nachreifung der unteren Sinne und zu den dafür unbedingt notwendigen Primärerfahrungen zu geben, denn gerade die körperlichen Sinne können nicht an Hörbüchern, Filmen, Videos, Spielkonsolen, am Computer entwickelt werden. (siehe auch viele einschlägige Artikel in der Zeitschrift „Erziehungskunst“[25], die dort online im Archiv zu finden sind)
Meiner Erfahrung nach sind auch viele – und immer mehr – vor allem der nach der Jahrtausendwende geborenen Kinder hochsensibel, geraten deshalb bei Reizüberflutung in Stress oder sogar in Panik und reagieren deshalb mit den vielen schwer verständlichen Phänomenen. (siehe Teil 6 10 Hochsensible, Bilddenker, Systemsprenger und andere besondere Kinder )
Das System Schule passt zu vielen Kindern nicht mehr – auch in der Waldorfschule
Immer noch wird mit viel Aufwand und viel gutem Willen versucht, die Kinder mit den verschiedensten Methoden an das System der jeweiligen Schule anzupassen. Aber es gelingt nur noch sehr partiell! Aus Sicht des oben Dargestellten muss es auch so sein, wenn die Individualität sich entwickeln will. Kurz zusammengefasst: in erster Linie sind nicht die Kinder schwierig, sondern das System, in dem sie lernen sollen, passt nicht (mehr) zu ihren Bedürfnissen – in mancher Hinsicht auch in der Waldorfschule. Deshalb zeigen sie durch ihr Verhalten (denn Kinder sind Bewegungsmenschen) immer mehr und deutlicher, dass die Schule, so wie sie jetzt betrieben wird, nicht zu ihnen passt. Das wird dann häufig als Defizite und als Teilleistungsstörungen diagnostiziert. Insofern müssen wir nicht die Kinder ändern, sondern das System, wie Schule betrieben wird!
Andererseits brauchen aber viele Kinder auch spezielle Hilfen, wie z.B. die Integration persistierender frühkindlicher Reflexe, die Abklärung von Hörproblemen, von überkreuzten Dominanzen, von Winkelfehlsichtigkeit, von Allergien, von familiären Belastungen, von Traumatisierungen etc., damit sie sich altersgemäß entwickeln können. (Bei Bedarf kann ein Fragebogen für Eltern zur Abklärung von Hochsensibilität bei uns angefordert werden: michael@harslem.coach, https://harslem.de/contact )
Die Schule zu verändern, wird schon auf verschiedenen Ebenen versucht. Diesen speziellen Bedürfnissen der Kinder soll durch Binnendifferenzierung und spezielle Förderprogramme begegnet werden. Immer mehr Förderlehrer werden gesucht und sollen Hilfe bringen. Immer mehr Kinder bekommen Förderpläne, nach denen sie spezielle Trainings absolvieren müssen, mit denen sie ihre Defizite abbauen sollen, damit sie wieder in die normale Schule passen, wieder integriert werden können. Die Bestrebungen zur Inklusion haben das noch einmal verstärkt. Einerseits will man damit zwar der einzelnen Individualität gerecht werden, andererseits will man sie aber an die gängigen Standards und an das vorherrschende Lernsystem anpassen. Die in gewisser Weise härteste Methode ist für mich die Gabe von Medikamenten, z.B. Ritalin, um die Kinder auf künstliche Weise ruhig zu stellen und gefügig zu machen. Damit nimmt man ihnen jede Möglichkeit, die körperliche und seelische Nachreifung zu entwickeln, die für sie eigentlich nötig wäre, und schafft Abhängigkeit von Medikamenten und befördert Suchtverhalten.
Deshalb sind in den letzten Jahren in den staatlichen Schulen die Programme zur Binnendifferenzierung durch eigenverantwortliches Arbeiten etc. mit einer Flut von verschiedenen leistungsdifferenzierten Arbeitsblättern von den ersten Grundschulklassen an sehr stark ausgebaut worden. „Individualisierung des Lernens“ steht inzwischen in allen staatlichen Lehrplänen an oberster Stelle. Ob man damit aber die oben beschriebene Individualität fördert, ist für mich sehr fraglich. Denn letztlich müssen alle doch wieder alles machen, das Klassenziel erreichen, werden die Leistungen benotet, werden – nach inzwischen flexiblen Eingangsstufen – doch wieder standardisierte Versetzungen in die nächste Klasse oder Übergänge in weiterführende Schulen/ Ausbildungen/Hochschulen erreicht werden müssen.
In einigen Waldorfschulen habe ich in den letzten 20 Jahren verschiedene Praxisforschungsprojekte zum individualisierten, kooperativen, selbstorganisierten und selbstverantwortlichen Lernen begleitet, in denen versucht wurde und wird, der jeweiligen Individualität des Schülers auch in einem größeren Klassenzusammenhang bestmögliche Bedingungen für seine jeweils eigene Entwicklung zu schaffen. Beispiele dazu finden sich auf der Webseite der Akademie für Entwicklungsbegleitung[26] oder auf der speziellen Webseite Selbstverantwortliches Lernen[27]. Wir haben diese Projekte mittels der von mir entwickelten Praxisforschung geplant, durchgeführt und ausgewertet. Insgesamt konnten wir feststellen, dass die Lernfreude und der Lernwille der Schüler über alle Altersstufen erhalten blieb und wir es fast gar nicht mehr mit sogenannten „schwierigen“ Schülern zu tun hatten.
Ganz auf die Individualität bauen! Teil 4 von 9
[1] Rudolf Steiner „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ (GA 10)
[2] Rudolf Steiner an vielen Stellen, z.B. Anweisungen für eine esoterische Schulung
[3] Rudolf Steiner Allgemeine Menschenkunde, GA 293, 4.+5. Vortrag
[4] Rudolf Steiner „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ (GA 10)
[5] Rudolf Steiner Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart, 3 Bände, GA 300/1-3
[6] „Zur meditativen Vertiefung des Lehrer- und Erzieherberufs“, Verlag am Goetheanum, Dornach 20144
[7] Rudolf Steiner „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ (GA 10) S. 33
[8] Dr. Michael Winterhoff, „Lasst die Kinder wieder Kinder sein! oder: die Rückkehr zur Intuition“ (Goldmann, 2013)
[9] ders. mit Carsten Tergast: Warum unsere Kinder Tyrannen werden: Oder: Die Abschaffung der Kindheit; ders. Mythos Überforderung: Was wir gewinnen, wenn wir uns erwachsen verhalten; ders. Die Wiederentdeckung der Kindheit: Wie wir unsere Kinder glücklich und lebenstüchtig machen; ders. Tyrannen müssen nicht sein: Warum Erziehung allein nicht reicht – Auswege; ders. Lasst Kinder wieder Kinder sein! Oder: Die Rückkehr zur Intuition; ders. mit Isabel Thielen: Persönlichkeiten statt Tyrannen: Oder: Wie junge Menschen in Leben und Beruf ankommen; ders. SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet – – und was wir dagegen tun können;
[10] (Rudolf Steiner, GA 302a, Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis, S.88, 22.6.1922)
[11] mündliche Überlieferung
[12] Anna Seydel: Ich bin Du: Kindererkenntnis in pädagogischer Verantwortung, Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen; Christof Wiechert: Du sollst sein Rätsel lösen …‘: Gedanken zur Kunst der Kinder- und Schülerbesprechung, Verlag am Goetheanum; Ingrid Ruhrmann, Bettina Henke: Die Kinderkonferenz: Übungen und Methoden zur Entwicklungsdiagnostik, Verlag Freies Geistesleben, Michael Harslem: Das Bild des Kindes, Manuskript
[13] Manfred Spitzer: Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen ISBN: 978-3426276037, ders. Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens ISBN: 978-3827417237
[14] Gerald Hüther https://www.gerald-huether.de/
[15] Manfred Spitzer https://www.uniklinik-ulm.de/psychiatrie-und-psychotherapie-iii/team/prof-dr-med-dr-phil-manfred-spitzer.html
[16] Daniel J. Siegel https://drdansiegel.com/
[17] André Frank Zimpel https://www.ew.uni-hamburg.de/ueber-die-fakultaet/personen/zimpel.html
[18] André Frank Zimpel
[19] Rudolf Steiner GA 143, „Nervosität und Ichheit“, 11. Januar 1912 in München
[20] Jesper Juul: Nein aus Liebe: Klare Eltern – starke Kinder ISBN: 978-3466307760
[21] Winterhoff, a.a.O
[22] Winterhoff, a.a.O
[23] Manfred Spitzer: Digitale Demenz, ISBN-13: 978-3426276037
[24] Manfred Spitzer: Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert, ISBN: 978-3426276082
[25] Erziehungskunst https://www.erziehungskunst.de/startseite/
[26] https://entwicklungsbegleitung.net/
[27] www.selbstverantwortliches-lernen.de
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