Ganz auf die Individualität bauen! Teil 8

Ganz auf die Individualität bauen! Teil 8

Geht das überhaupt? Was bedeutet das für die Waldorfschule?

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Inhalt

Dieser Aufsatz erhebt ausdrücklich keinen wissenschaftlichen Anspruch, sondern will verschiedene Aspekte zu dem Thema zugänglich machen! Die Literaturangaben sind nicht als wissenschaftliche Belege gedacht, sondern als Hinweise auf weiterführende Literatur oder Filme zu der jeweiligen Fragestellung, so dass der interessierte Leser dort weitersuchen kann.

Der besseren Lesbarkeit halber wird in den Fällen, in denen das Gendern zu umständlich wird, das generische Feminin oder Maskulin verwendet. Es sind damit immer alle Geschlechter gleichermaßen gemeint.

15 Andere Formen des Leistungsnachweises sind nötig

Setzen wir auf die Individualität, verändert sich auch der Leistungsbegriff, da Leistung immer nur individuell gezeigt, also nachgewiesen und bewertet werden kann. Aus meiner Sicht gilt hier das Motto für Waldorfschüler: „Wann ist ein Waldorfschüler gut? Wenn er sein Bestes gibt!“ Das kann ich immer nur in der individuellen Begegnung wahrnehmen, erkennen und beurteilen. Dann fühlt sich der Schüler aber auch in seinem Bemühen erkannt! So kann ein Lernprozess sehr fruchtbar und gut gewesen sein, auch wenn das Ergebnis nicht besonders „gut“ oder sogar missglückt ist. Das heißt, wir orientieren uns beim Lernen in erster Linie am Prozess und nicht so stark nur am Ergebnis.

Bei Freiwilligkeit in der Wahl des Stoffes und der Methode der Bearbeitung ist eine notwenige Folge auch die freie Wahl der Form des Leistungsnachweises, um der Individualität ihre eigene, ihr gemäße Form des Ausdrucks zuzugestehen. So sollten verschiedene Formen für den Leistungsnachweis gewählt werden können z.B. neben oder statt den schriftlichen Ausarbeitungen auch mündlicher Vortrag, bildhafte Darstellung, darstellende Formen wie Sketche, Eurythmie, Tanz, Pantomime, Theater, Film u.ä., in Einzeldarstellungen oder gemeinsamen Darstellungen u.v.a.m. Die Schüler werden dabei sehr kreativ, wenn wir es zulassen.

Unter anderem bietet sich auch das Portfolio in seiner freilassenden Variante (denn auch das Portfolio ist teilweise schon sehr formalisiert und standardisiert worden) – vor allem auch das Lernprozess-Portfolio für den individualisierten Leistungsnachweis in diesen freiwilligen Lernformen an.

Leistungsbewertung transparent und erfahrbar machen

Deutlich wird aus alledem, dass es ganz andere Maßstäbe braucht, um die Leistung der einzelnen Individualität zu erfassen und jeweils individuell zu bewerten. Auch hier hat sich in den Praxisforschungsprojekten zum individualisierten, kooperativen, selbstorganisierten und selbstverantwortlichen Lernen in der Oberstufe sehr bewährt, gemeinsam mit den Schülern die Maßstäbe für eine Leistungsbewertung zu entwickeln. Sie kommen auf sehr gute Ideen und sind meist strenger, als die Lehrer es wären.

Wir haben sowohl die Fragen für die Klassenarbeiten von den Schülern entwickeln lassen als auch die Erwartungshorizonte für die jeweiligen Arbeiten. Dadurch machten sich die Schüler eigenaktiv mit dem Prüfungsstoff vertraut, um die Aufgaben entwickeln zu können. Da alle Schülerinnen daran beteiligt waren, gab es Aufgaben auf ganz verschiedenen Niveaus mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden, aus denen der Lehrer dann die Aufgaben für die Klassenarbeit ausgewählt hat. Die Klassenarbeiten waren nicht leichter als die früher vom Lehrer gestellten, fielen jedoch deutlich besser aus, weil sich die Schüler intensiv mit ihnen beschäftigt hatten, um sie ausarbeiten zu können.

Dann lernten die Schüler im nächsten Schritt auch, die Erwartungshorizonte für die jeweiligen Aufgaben zu entwickeln. In der Erarbeitung der jeweiligen Erwartungshorizonte lernten sie die Anforderungen auf den verschiedenen Niveaus selbst entdeckend kennen und konnten so einerseits ihre eigene Leistung besser einschätzen. Andererseits wurden sie damit auch fähig, die Arbeiten anderer zu korrigieren, indem sie diese gemeinsam gefundenen Maßstäbe darauf anwandten. So wurden die Schüler auch in Bezug auf die Korrektur und Bewertung der Klassenarbeiten und anderer Arbeiten selbstständig und auch selbstverantwortlich – und entlasteten die Lehrer, indem sie sie damit von der alleinigen Korrekturarbeit befreiten.

Korrekturen/ Leistungsnachweise

Wer sagt denn, dass die Lehrerin, der Lehrer alles, was die Schülerinnen produzieren, selbst korrigieren muss? Es wird aber trotzdem in der Regel so gehandhabt – und viele stöhnen über die Berge von Korrekturen. Ja, es ist bei allen schönen Seiten des Lehrerberufes das Korrigieren von Tests, Epochenheften, Klassenarbeiten, Klausuren, Referaten etc. eine zeitaufwändige Schattenseite: Die Stapel türmen sich oft wochenlang auf den Schreibtischen und mit jedem Tag des Hinausschiebens wird der Berg und die seelische Belastung noch größer. Die SchülerInnen drängen, die Eltern werden böse…. (Na ja, mit einer guten Arbeitsorganisation muss es nicht zu solcher Bedrängnis kommen!) – aber die Arbeit des Korrigierens bleibt beim Lehrer! Und man kann sie auch nicht einfach an jemand anderen abgeben – denn die Lehrerin trägt im allgemeinen Verständnis doch die Verantwortung dafür, was die Schülerinnen lernen. So das gängige Bild – und damit schnappt die Korrekturfalle zu und die Lehrerin ist darin gefangen.

Ich habe früher auch in dieser Falle gesessen – bis ich mir klar gemacht hatte, dass die Schülerinnen eigentlich selbst und untereinander in gewissem Rahmen (ich höre die Bedenken! – natürlich nicht alles!) genauso gut sich gegenseitig korrigieren können müssten wie ich, wenn mit ich ihnen die Voraussetzungen dafür erarbeite. Was ist also zu tun, oben habe ich es schon erwähnt:

  1. Als erstes müssen wir gemeinsam überlegen, wofür der bestimmte Leistungsnachweis gut sein soll: was ist das Ziel? Was sind die gewünschten Ergebnisse? Warum das alles?
  2. Dann müssen die Inhalte klar werden. Am besten entwickeln die Schülerinnen die Aufgaben für die Arbeit/den Test auf verschiedenen Niveaus selbst und korrigieren sie sich gegenseitig. Der Lehrer wählt dann nur aus den eingereichten Aufgaben die für den Test aus. Auch das ist ein Lernprozess, der kleinschrittig aufgebaut werden muss, damit die Schüler Sicherheit im Formulieren von Aufgaben erlangen.
  3. Im nächsten Schritt müssen wir gemeinsam herausfinden nach welchen Kriterien die Ergebnisse beurteilt werden sollen, also den Erwartungshorizont zu beschreiben. Sobald die Schüler einmal durchschaut haben, wofür der Leistungsnachweis eigentlich gut ist und welche Kriterien sie selbst und die Lehrerin daran anlegen, sind sie meist hoch motiviert, das selbst in die Hand zu nehmen.
  4. Dazu müssen jetzt auch die notwendigen Techniken erlernt werden: worauf achte ich? Wie? Z.B. auch welche Korrekturzeichen werden verwendet? Wie stelle ich Ergebnisse fest und wie mache ich eine adäquate Beurteilung?
  5. Das alles wird in den praktischen Anwendungen gelernt. Die ersten Versuche werden gegenseitig ausgewertet und verbessert, so dass die Sicherheit im Umgang mit den Korrekturen und Bewertungen steigt. Hier können auch Formen gemeinsamen Lernens wie Lernpartnerschaften, Lerntrios, Lerngruppen, Schülerschule o.ä. (siehe Teil 3 Formen des individuellen und gemeinsamen Lernens ) eingesetzt werden.

Aus meiner Sicht kann das – altersgemäß gehandhabt – kleinschrittig ab der 1. Klasse begonnen werden. Schon die Kleinen entwickeln ein sicheres Gefühl dafür, was an einem Bild, einem Lied, einer Arbeit etc. schön ist, was nicht und warum, was gut geht beim Lernen und was nicht und warum. Das hat ganz stark mit dem für die kleineren Kinder in der Regel noch sehr präsenten und unverdorbenen Wahrhaftigkeitsgefühl zu tun. Wenn etwas als schön bezeichnet wird, was nicht schön ist, geraten sie in einen inneren Widerspruch und werden verunsichert. So wichtig der Lernprozess ist, so ist auch immer das Ergebnis wichtig als Beweis dessen, was man kann oder auch noch nicht kann, der Erfolg als Lohn für die Anstrengung bzw. als Ansporn, sich weiter anzustrengen, neue Lösungsstrategien zu entwickeln.

16 Kompetenzen offen erfassen und individuell handhaben

Haben wir einen handlungsorientierten Ansatz des Lernens und gehen vom Erfahrungslernen aus, so sind wir in einem ständigen Prozess dialogischen Lernens, in dem wir als Lernbegleiter an den Fragen der Schüler ansetzen können. Wo keine Fragen sind, werden auch keine Antworten gesucht und sollten auch keine gegeben werden! In der eigenen Frage öffnet sich der Schüler und kann Interesse für die Antwort entwickeln. Dabei versuchen wir, dem Schüler grundsätzlich keine Antwort zu geben, die er selbst finden kann, auch wenn manches dadurch viel länger dauert. Die selbst gefundene Lösung macht Freude und ist damit nachhaltig verankert. So kann er ständig seine Problemlösungsstrategien weiterentwickeln.

Um die Komplexität dieses Lernansatzes im Sinne der Praxisforschung in unseren Lernforschungsprojekten wenigstens annähernd besser zu erfassen, wollen wir in allen Erfahrungsfeldern, praktischen Tätigkeiten und Projekten die jeweils damit verbundenen Lernfelder entdecken und beschreiben, welche Kompetenzen damit erworben werden können. Wir ordnen – soweit uns das möglich erscheint – die Lernfelder den 5 folgenden Kompetenzbereichen zu: Selbstkompetenz, Sozialkompetenz, Methodenkompetenz, Sach- und Fachkompetenz,Handlungskompetenz. Diese Zuordnung ist in manchen Bereichen noch vorläufig und muss überprüft werden. Es ist der Versuch, die verschiedenen Kompetenzen differenzierter zu erfassen. Bei manchen wird es Überschneidungen geben. Es kommt uns vor allem darauf an, Bewusstsein dafür zu entwickeln, welche Lernfelder enthalten sind und welche Kompetenzen in ihnen entwickelt werden können.

Zum Beispiel war für uns anfänglich die Unterscheidung zwischen Methodenkompetenz und Handlungskompetenz besonders schwierig. Wir unterscheiden diese beiden trotzdem, da die Kenntnis der Methode – ja sogar ihre Beherrschung – noch nicht den adäquaten Einsatz im Handlungsfeld garantiert. Insofern umfasst für uns die Handlungskompetenz die Möglichkeit, alle anderen Kompetenzen, Selbstkompetenz, Sozialkompetenz, Methodenkompetenz und Sach- +Fachkompetenz jeweils der Aufgabe und deren Anforderungen entsprechend wirklichkeitsgemäß anzuwenden und gezielt einzusetzen. Handlungskompetenz ist letztlich das Ziel jedes Kompetenzerwerbs in den anderen vier Bereichen.

In unserem Lernforschungsprojekt „Freie Hofschule Gaisberg“ von 2006 bis 2012 haben wir als Lernbegleiter gemeinsam mit den Schülerinnen eine Beschreibung der Kompetenzen, die in den verschiedenen Projekten und Praxisfeldern entwickelt werden konnten, vorgenommen, diese laufend fortgeschrieben und jeweils nach den neuesten Erkenntnissen überarbeitet. Falls die Eltern noch neue Kompetenzen an ihren Kindern entdeckt hatten, haben wir diese dazugenommen. Ergänzend zu dieser Beschreibung der Kompetenzen im Allgemeinen erfassten wir jeweils auch für jedes einzelne Lernprojekt die jeweiligen Lernfelder und die damit verbundenen Kompetenzen nach den 5 Kompetenzbereichen.

Insofern ist auch diese Aufzählung der Kompetenzen der momentane Stand einer Erforschung der Handlungsfelder und der damit verbundenen Lernfelder und wird mit weiteren Projekten künftig in Bezug auf die Lernfelder und die damit verbundenen Kompetenzen weiterentwickelt, weiter ergänzt und verändert werden.

Die damit erfassten Lernfelder und damit verbundenen Kompetenzen in den 5 Bereichen ergeben die Grundlage für die Wahrnehmung und für die Leistungserfassung für jeden einzelnen Schüler und damit die Grundlage für die Beschreibung im Zeugnis. Für die älteren Schüler dient es auch als Instrument zur Selbstkontrolle und Selbstbeurteilung.

Hier folgt eine beispielhafte Aufzählung von Kompetenzen in den 5 Feldern, die sich aus unserem handlungspädagogischen Ansatz in der Freien Hofschule Gaisberg ergeben haben:

Selbstkompetenz z.B.

  • Achtung vor der Schöpfung, der Natur, der Pflanze, dem Tier, dem Menschen, vor sich selbst entwickeln
  • Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, Sorgfalt entwickeln in allem Tun, Reden etc.
  • Interesse entwickeln können
  • Willensbildung, den eigenen Willen einbringen, auf etwas gezielt richten, sinnvoll einsetzen und anwenden können – aber dann auch wieder loslassen können
  • Geduld
  • Genauigkeit
  • Konzentration
  • Planen „denke erst und handle dann“
  • Probleme eigenständig lösen, eigene Problemlösungsstrategien entwickeln
  • Selbstüberwindung, z.B. arbeiten, auch wenn es keinen Spaß macht, es schwer und anstrengend ist, wenn ich müde bin, anderes lockt, das Wetter unfreundlich ist…
  • Gefühl für sich selbst, seine Möglichkeiten und Grenzen
  • Frustrationstoleranz entwickeln, Umgang mit Enttäuschungen, nicht erfüllten Wünschen
  • Grobmotorik beherrschen
  • Feinmotorik beherrschen
  • Beziehungsfähigkeit, sich verbinden können,
  • Distanzierungsfähigkeit, sich abgrenzen können
  • Sich in einen sozialen Zusammenhang einordnen können,
  • Sich behaupten können, Standfestigkeit
  • sinnvolle Anweisungen befolgen können, sich einordnen können
  • zur Ruhe kommen können, sich selbst in Ruhe bringen können
  • Durchhaltevermögen entwickeln, an die Grenzen des eigenen Leistungsvermögens kommen bzw. gehen, diese Grenzen kennenlernen und ausweiten
  • altersgemäße Reflexion, Selbstkontrolle, auf die eigene Tätigkeit und deren Ergebnisse schauen lernen
  • Feedback, Spiegelung, Fremdsicht und Fremdkontrolle als Hilfe zur Selbstkontrolle annehmen lernen
  • Wahrnehmungsfähigkeit, genaues Sehen, Hören, Tasten…
  • Fehler erkennen, annehmen, korrigieren können
  • Formgefühl, Proportionen, Verhältnisse, Symmetrie
  • Farbempfinden
  • Sich bewusst werden/machen von Wahrnehmungen, Beobachtungen, Erfahrungen, Gefühlen, Gedanken, Intentionen, Erkenntnissen, Fragen… in der Selbstreflexion und  im Gespräch darüber
  • Überblick über sich und seine Handlungen sowie deren Auswirkungen bekommen
  • Zusammenhänge erkennen lernen
  • Sicherheit entwickeln z.B. durch vielfältiges Üben

Sozialkompetenz z.B.

  • Zusammenarbeit mit anderen, Hand in Hand arbeiten, sich gegenseitig zuarbeiten
  • gegenseitige Hilfe und Unterstützung auf allen Gebieten
  • gegenseitiges Erklären
  • Meinung des anderen erfragen und wertschätzen
  • sehen, was der andere braucht
  • Koordination, Abstimmung mit anderen
  • Akzeptanz der anderen
  • Wertschätzung der Arbeit des anderen
  • Andersartigkeit ertragen, annehmen und schätzen lernen
  • Die Stärken des anderen anerkennen und schätzen
  • Die Schwächen des anderen ertragen, ihn dafür nicht hänseln oder tadeln, sondern sie mitfühlend ausgleichen helfen
  • Sich in die Gruppe einordnen können
  • Sich zurücknehmen können, Rücksicht nehmen, auch den anderen zum Zuge kommen lassen, nicht immer der erste sein wollen
  • Den anderen aktiv einbeziehen, mitnehmen
  • Sich selbst ausreichend einbringen lernen
  • Die eigene Position vertreten können,
  • sich nicht zurückdrängen lassen –
  • ohne andere schlecht zu machen, ohne aggressiv werden zu müssen
  • im Team gleichberechtigt zusammenarbeiten
  • gemeinsame Problemlösungsstrategien entwickeln und anwenden
  • verlieren und gewinnen können

Methodenkompetenz z.B.

  • selbstständiges Arbeiten und Lernen
  • selbstverantwortliches Arbeiten und Lernen
  • zusammenarbeiten im Team
  • arbeitsteiliges Arbeiten
  • Gesprächsführung, sinnvolle Spielregeln für Gespräche entwickeln und anwenden
  • Konzentrationsmethoden kennen und anwenden können
  • Stressbewältigungsmethoden kennen und anwenden können
  • Methoden kennen, um zur Ruhe zu kommen
  • Feedbackmethoden kennen
  • Wissen, wie man etwas präsentieren kann, vermitteln kann
  • Fokussierung z.B. nach Davis oder Harslem o.ä.
  • Rechenwege, Rechenarten kennen und mit eigenen Strategien richtig anwenden können
  • sich im Deutschen gewandt und richtig ausdrücken können,
  • sich in der Fremdsprache z.B. im Englischen, Französischen, Russischen, Spanischen in einfachen sprachlichen Formen ausdrücken können,
  • Dokumentation, „Lerntagebuch“ bzw. festhalten, „aufschreiben“, „aufzeichnen“ in verschiedenen Formen z.B. Bilder, Zeichnungen, Fotos, Film, Präsentation, Vortrag, Portfolio
  • Zusammenhänge erkennen, herstellen können

Sach-+Fachkompetenz z.B.

  • Auf das jeweilige Gebiet bezogen z.B. Kenntnis von Pflanzen, Tieren, Materialien, Menschen, Geschichte, „Philosophie“, „Religion“, Technik, Maschinen…:
    (hier wird jeweils eine Fülle von spezifischen Kompetenzen erfasst werden können)
  • sich ständig erweiternde und vernetzende Welterkenntnis und Weltverstehen im Zusammenhang mit konkreten Tätigkeiten, Interessen und Fragen altersgemäß entwickeln,
  • für die einzelnen Projekte spezifische Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wissen
  • Sprachliche Fähigkeiten entwickeln, sich richtig ausdrücken können, angemessene Begrifflichkeit entwickeln im Deutschen, Englischen, Französischen, Russischen, Spanischen
  • Berechnen, was sich berechnen lässt, und damit ein lebendiges Verhältnis zu Zahlen, Mengen, Verhältnissen etc. bekommen

Handlungskompetenz z.B.

  • wahrnehmen, sehen, was nötig ist, was gebraucht wird für eine Sache
  • sich sinnvoll einbringen können in Prozesse
  • handlungsfähig sein, adäquat und sinnvoll handeln können
  • sehen, was in Ordnung ist und was in Ordnung gebracht werden muss
  • zupacken können
  • im Team arbeitsteilig arbeiten können
  • üben von Tätigkeiten und damit Fertigkeiten entwickeln z.B. im Umgang mit den Tieren, mit Werkzeugen und Materialien verschiedener Art
  • Sprache: Sich angemessen ausdrücken können im Deutschen, aber auch in den Fremdsprachen
  • Rechnen: mit Zahlen und Zahlenoperationen wirklichkeitsgemäß umgehen lernen
  • Zeichnen: mit verschiedenen Stiften Gegenstände und Situationen zu Papier bringen
  • Malen: sich mit Farben und Formen ausdrücken können
  • Musik: Sich mit Tönen und Rhythmen ausdrücken können
  • Respektvollen, angemessenen Umgang mit Menschen, Tieren, Pflanzen, Gegenständen z.B. Materialien, Werkzeug, Haus, Geschirr etc.

Diese Listen können je nach Altersstufe, Fach/Materie, Projekt… beliebig erweitert werden.

17 Arbeit in Projekten

Eigentlich gibt es in der Waldorfschule schon viele Projekte: Klassenspiele bzw. Theaterstücke, oft in jeder Klassenstufe, Hausbau-Epoche, Handwerkerepoche in der 3. Klasse, ökologische Projekte, Praktika von 1-4 Wochen im Forst, in der Landwirtschaft, im sozialen Bereich, in der Industrie, das Feldmesspraktikum, Klassenausflüge, Klassenfahrten von 2 Tagen bis 3 Wochen, Schüleraustausch mit anderen Ländern, Chor- und Orchesterfreizeiten…, um hier nur die gängigsten zu nennen. Sie sind in der Regel sehr erfolgreich und die Schüler lernen dabei sehr viel, aber sie haben meistens eines gemeinsam:

  • sie werden meist von Lehrern und Eltern organisiert und
  • sie finden zusätzlich zum normalen Unterricht statt.

So stehen sie oft in Konkurrenz zum laufenden Unterricht und werden dann wegen des Ausfalls von regulären Stunden häufig als störend empfunden. Danach kehrt der normale Schulalltag wieder zurück und der Zauber des Projektes ist verflogen.

In Projekten ist es ganz selbstverständlich, dass nicht alle alles machen, sondern dass alle Schüler die unterschiedlichen Aufgaben, die alle jede für sich für sich wichtig und sinnvoll sind und zusammen erst das Projekt ausmachen, in Arbeitsteilung erledigen. So ergibt sich wie von selbst, dass jeder Schüler das ergreifen kann, worin er sich so sicher fühlt, dass er gerne zu der gemeinsamen Sache beitragen will und dafür auch noch etwas lernen will. Die Individualisierung und das kooperative Lernen sind in der Projektmethode selbstverständlich – könnten es wenigstens sein, wenn die Lehrer nicht zu viele Teile des Projektes selbst in die Hand nehmen wollen und das Projekt selbst steuern wollen.

Die guten Erfahrungen mit den Projekten könnten ausgeweitet werden, wenn man die Schüler sie zunehmend selbst organisieren und gestalten ließe. Das setzt voraus, dass man die Projektmethode von unten an kleinschrittig anlegt, so dass alle dazugehörigen Bereiche und Aufgaben gekannt werden und die dafür nötigen Fähigkeiten erworben und ausreichend geübt werden können. Sehr gute Erfahrungen machen die Waldorfschulen seit vielen Jahren mit den Oberstufen-Projekttagen oder Projektwochen, wenn sie von den Schülern selbst inhaltlich gestaltet und organisiert werden können. Hier entfaltet sich in diesen Tagen in der Regel ein reges Leben und Lernen, aus dem alle erfüllt herausgehen. Dann aber setzt auch hier wieder der normale Unterrichtsbetrieb ein und die Freude am Lernen schwindet in der Regel sehr schnell wieder.

Neuere Beispiele für Ansätze von Projektlernen sind verschiedene Angebote in den Wahlpflichtbereichen der Waldorfschulen, die z.T. auch Projektcharakter haben können, wie z.B. die Profikurse (Wahlpflichtkurse) in der FWS Schwerin, oder die Reparaturwerkstatt in der RSS München Schwabing. Solche einzelnen Beispiele gibt es sicher noch viele.[1]

Im Prinzip könnten in den Waldorfschulen, die ja in den meisten Bundesländern noch einen gewissen Spielraum in der Gestaltung ihres Curriculums haben, viel mehr verschiedene fächerübergreifende Projekte angelegt werden, die von den Schülern (mit-)gestaltet werden und die den normalen Unterricht ersetzen können. Das erfordert aber ein grundsätzliches Umdenken in Bezug auf die Fächer mit ihren Wochenstunden, die Berechnung der Deputate, den Stundenplan und den Ansatz, dass alle Schüler alles machen müssen. Letztlich wird eine ganz andere, viel freiere Form der Schule daraus entstehen.

Ein Beispiel eines Teiles eines Projektes

Eine besondere Erfahrung durften wir mit unserem Lernforschungsprojekt „Freie Hofschule Gaisberg“ machen, das ja eigentlich ein außerschulischer Lernort war. Wir sind uns bewusst, dass wir diese Erfahrungen nicht ohne Weiteres auf eine „normale“ Schule übertragen können, sehen aber, dass daraus einige Anregungen übernommen werden könnten, die sich vor allem auf die veränderte Haltung dem Lernen der Schüler gegenüber beziehen.

Wir begannen als dislozierte Klasse der RSS Salzburg, bis das Unterrichtsministerium in Wien darauf kam, dass Freie Schulen keine dislozierten Klassen führen dürfen, sondern nur österreichische Staatsschulen. Dann wurden wir als Lernforschungsprojekt in Form einer besonderen Waldorfschule anerkannt, die auf und mit dem Bauernhof arbeitet, den Waldorflehrplan frei anwenden darf und alle Prüfungen selbst gestalten und mündlich abhalten darf. So hatten wir den denkbar größten Freiraum unsere Lernprojekte so zu gestalten, dass sie nicht an Fächer gebunden waren, sondern immer alles einbeziehen konnten, was für die Kinder lernenswert war. (Wie in Österreich üblich, musste von den Kindern, deren Eltern das wollten, der Hauptschulabschluss dann als Externenprüfung abgelegt werden.)

So wurde in der „8. Klasse“, die es ja nur als Altersgruppe gab, da wir keine Klassen hatten, das „Patchwork“-Projekt unserer amerikanischen Lernbegleiterin auch zu einem Projekt des Nähens mit der Tretnähmaschine, das die 4 Schüler freudig ergriffen. Erst mussten die Nähmaschinen besorgt werden. Es gelang den Schülern über ihre Kontakte, 3 Tretnähmaschinen zu finden, die jedoch alle drei jeweils ein anderes System hatten. Das führte zu vielen Fragen und interessanten Vergleichen. Es wurde die Geschichte der Nähmaschine erforscht und festgestellt, dass sie an verschiedenen Orten gleichzeitig erfunden wurde. Daran schlossen sich viele Fragen der Schüler darüber an, wie Ideen auf der Welt wirksam werden. Dabei wurde von ihnen jeweils auch der kulturelle und technische Kontext der damaligen Zeit in Deutschland und in den USA beleuchtet und hinterfragt.

Dann wurden die Maschinen repariert, denn sie funktionierten nur teilweise, waren verharzt und klemmten. Dazu mussten sie auseinandergebaut, gereinigt, geölt, wieder zusammengebaut und neu justiert werden. Zu diesem Zeitpunkt hatten alle die Mechanik und das System der jeweiligen Nähmaschine voll durchschaut. Wie wird eine auf-und-ab-Bewegung in eine Drehbewegung umgesetzt und umgekehrt? Wie funktioniert das? Wie werden die verschiedenen Stiche möglich? Welche Bewegungen und Übertragungen/Übersetzungen finden innerhalb der Maschine statt? Wie wird die Drehbewegung am Ende wieder in einen auf-und-ab-Bewegung zum Nähen verwandelt? Wie wird der Vorschub bewirkt? Wie wird der Unterfaden eingeführt? Wie entstehen die Spannungen und wie werden sie geregelt? Wie werden die verschiedenen Geschwindigkeiten und Sticharten innerhalb der Maschine erreicht? Und viele andere Fragen mehr.

Dann wurden die Maschinen „eingenäht“ und nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ nachjustiert, bis sie einwandfrei nähten. In diesem Prozess wurden die Schüler mit dem Nähen so vertraut, dass dann die Hand-Fuß-Koordination einwandfrei klappte. Sie nähten ihre Probestücke mit wachsender Begeisterung. Die Maschinen stellten Geschwindigkeitsrekorde auf…

Damit waren die Voraussetzungen für das Patchwork-Projekt geschaffen, das mit den Entwürfen und den Probestücken der selbst gestalteten Patchwork-Topflappen begann und dann in ein individuell entworfenes kompliziertes Patchwork-Kissen mündete. Die in diesem Prozess angesprochenen vielfältigen Prozesse und Lernfelder werden hier nicht weiter ausgeführt.

Ganz auf die Individualität bauen! Teil 8 von 9

weiter zu Teil 9


[1] s.a. Erziehungskunst https://www.erziehungskunst.de/startseite/ , Waldorf Ideen Pool https://www.waldorf-ideen-pool.de/

Foto von Alexander Grey von Pexels

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